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Die josephinische Zäsur 27
Noch vor der Erlassung des eigentlichen Toleranzpatentes für die Juden Niederös-
terreichs73 (mit Wien) ergingen zahlreiche Einzelverordnungen, in denen der Kaiser
versuchte, die »bürgerliche Stellung« der Juden zu verbessern. So wurde im Okto-
ber 1781 angeordnet, den »bisher beobachteten Unterschied in der jüdischen Tracht
und Kleidung« (die gelben Bänder) ganz abzustellen. Den Juden solle »in Ansehung
der Kleidertracht, wenn sie sich sonst ruhig und ordentlich aufführen, von nieman-
dem etwas in Weg« gelegt werden.74 Wie alle Reformen Josephs II. erfolgten auch
diese von oben und stießen bei der Bevölkerung auf wenig Verständnis. Um den
Volksschulbesuch jüdischer Kinder in allen Erbländern durchzusetzen, ordnete er –
gleichsam mit einem Antirassismuserlass – an, dass die Juden »wie alle anderen Ne-
benmenschen« zu betrachten seien. Das »bei einigen, besonders bei niedrigdenken-
den Leuten gegen die jüdische Nazion bisher beobachtete Vorurtheil einer Verächt-
lichkeit (…), das sogar zu sträflichen Exzessen Anlaß gegeben« habe, sei abzulegen.75
Doch als das Patent für die Juden Niederösterreichs am 2. Januar 1782
– von den
Wiener Juden mit Jubel begrüßt
– endlich kundgemacht wurde, brach dieses keines-
wegs in allen Bereichen mit der bisherigen Judenpolitik. Bereits die Präambel zum
Gesetzestext betonte, dass der höchste Wille keinesfalls dahingehe, »der in Wien
wohnenden Judenschaft in Beziehung auf die äußere Duldung eine Erweiterung zu
gewähren«, insbesondere sollte ihnen – im Gegensatz zu den Protestanten – auch
in Hinkunft nicht gestattet sein, eine Gemeinde zu bilden, noch öffentliche Got-
tesdienste abzuhalten, noch eine Synagoge zu errichten.76 Ebenso war es nicht im
73 Zwischen 1781 und 1789 wurden acht verschiedene, die unterschiedlichen Bedingungen in den
einzelnen Ländern berücksichtigende Toleranzdekrete für Juden erlassen, im Einzelnen :
Das Toleranzdekret die Juden Böhmens betreffend vom 19.10.1781.
Das Patent für die schlesischen Juden vom 15.12.1781.
Die Erneuerung der Privilegien der Juden der Lombardei, Ende Dezember 1781.
Das Toleranzpatent für die Juden Wiens und Niederösterreichs vom 2.1.1782.
Das Toleranzpatent für die Juden Mährens vom 13.2.1782.
Die »Sistematica gentis Judaicae regulatio« für die Juden Ungarns vom 31.3.1783.
Das vorläufige »Judensystem in Galizien« vom 27.5.1785.
Die »Judenordnung für Galizien« vom 7.5.1789.
Erst nach dem Tode Josephs II. erhielten im Jahr 1790 auch die Juden von Triest, Görz und Man-
tua ein Toleranzpatent von Leopold II., der die Toleranzpolitik seines Bruders fortsetzte. Vgl. Josef
Karniel, Zur Auswirkung der Toleranzpatente für die Juden in der Habsburgermonarchie im jose-
phinischen Jahrzehnt, in : Peter F. Barton (Hg.) : Im Zeichen der Toleranz. Aufsätze zur Toleranz-
gesetzgebung des 18. Jahrhunderts in den Reichen Josephs II., ihren Voraussetzungen und ihren
Folgen. Eine Festschrift. Wien 1981, S.
203–220, hier : S.
204 und 218. Eine kritische Edition aller
die Juden betreffenden Toleranzpatente unter Federführung von Louise Hecht (Universität Olmütz/
Olomouci/Universität Wien) ist gegenwärtig in Vorbereitung.
74 Verordnung vom 12. Oktober 1781, zit. nach : Klueting, Josephinismus, S. 251.
75 Hofdekret für Böhmen vom 2. November 1781, zit. nach : Klueting, Josephinismus, S. 261.
76 Dies im Gegensatz zu den Sepharden, denen als türkischen Untertanen mit dem maria-theresiani-
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271