Seite - 32 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Bild der Seite - 32 -
Text der Seite - 32 -
32 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
Noch immer mussten viele Zweit- und Drittgeborene ihre mährische Heimat für im-
mer verlassen. Häufig übersiedelten diese jüngeren Söhne in die nur wenige Kilometer
entfernten oberungarischen (heute Slowakei) Judengemeinden, wo sie sich frei nie-
derlassen, heiraten und eine Familie gründen konnten.94 Positiv wurden Gesuche um
eine erledigte Familienstelle nur dann entschieden, wenn es, wie im Fall des Abraham
Brand (sein älterer Bruder Jakob Brand hatte schon vor vielen Jahren nach Ungarn
geheiratet und mittels eines Revers verkündet, nicht mehr in seine Heimat Mähren
zurückkehren zu wollen), erstens keinen erstgeborenen Bewerber gab und zweitens der
Gemeinde schon aus steuerlichen Gründen daran gelegen sein musste, eine erledigte
Familienstelle mit einem möglichst vermögenden Bewerber nachzubesetzen.95
Trotz all dieser restriktiven Bestimmungen aber hatte der Inhaber einer böhmi-
schen oder mährischen Familienstelle einen entscheidenden Vorteil : Er besaß das
politische Domizil, das Heimatrecht, in seiner Gemeinde und war damit zweifels-
ohne Staatsbürger. Sein Status war damit grundsätzlich ein besserer als etwa der eines
»hofbefreiten Juden« in Wien, dessen Aufenthaltstitel ausschließlich an sein Vermö-
gen gebunden war. Folgerichtig bewarben sich viele der vermeintlich privilegierten
Hofbefreiten, deren Aufenthalt nach dem Verlust ihres Vermögens prekär geworden
war, um eine Familienstelle. So bat im Mai 1792 der Hofbefreite Bernhard Frankl
in einem Majestätsgesuch, »gegen weitere Entrichtung der Inkolatssteuer sowie auch
eines Beitrags zur jüdischen Contributions Cassa« so lange geduldet zu werden, bis er
eine Familienstelle »ohne Nachteil eines anderen« erhalten könne. Betreffend eines
Vermögensausweises erklärt er, dass er – sollte sein bisheriger Broterwerb, »die Salz-
und Militärverpflegslieferungen« aufhören – »die Jahrmärkte mit inländischen Fab-
rikaten« befahren wolle. Das Gubernium allerdings sprach sich gegen den weiteren
Verbleib Bernhard Frankls aus, da es ihm, wie es in einem Gutachten heißt, »zwar
gestattet worden sei, dass er als solcher hier belassen werden möge«, jedoch sei dem
Kreisamt befohlen worden, darauf zu achten, dass »sobald er keine wirklichen Ge-
schäfte mehr besorget, er auch sogleich von hier abgeschafft werde«.96 Als »fremdem
Juden« drohte Bernhard Frankl (und seiner Familie) trotz seiner früheren Hofbe-
freiung, seines bereits 22-jährigen Aufenthalts in Mähren und seiner Verdienste als
ehemaliger kaiserlicher Armeelieferant die Ausweisung.
Dass ein zweit- oder drittgeborener Sohn in den Genuss einer Familienstelle
kam, kam selten, aber doch, vor. In einem Majestätsgesuch vom 27. April 1795
bat der aus der mährischen Judengemeinde Triesch/Třešt stammende Großhänd-
ler Aron Weinberger »um Verleihung der durch den Tod seines Vaters erledigten
94 Ausführlicher dazu : Stoklásková, Fremdsein, S. 667.
95 AVA Inneres, Hofkanzlei IV T 8, Mähren-Schlesien, aus März 1792, ohne Zahl.
96 Ebenda, aus Juni 1792, ohne Zahl.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271