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36 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
lediglich die bisherige Kopfsteuer durch eine »Toleranzsteuer« ersetzt (wobei der zu
zahlende Betrag verdoppelt wurde), die Autorität der autonomen jüdischen Gemein-
den, der Kahalim, jedoch unangetastet gelassen107, hob ihr Sohn Joseph II. die fiska-
lischen und politischen Funktionen der 64 galizischen Kahalverwaltungen ausdrück-
lich auf, ebenso wie die autonome jüdische Gerichtsbarkeit.108 Juden hatten sich
fortan in allen öffentlichen Angelegenheiten an die Kreisämter bzw. an das galizische
Landesgubernium zu wenden. Ebenfalls in die neue Ordnung aufgenommen wurde
die Militärpflicht der Juden. Gegenüber einer früher erlassenen Bestimmung wurde
Juden nun auch die Möglichkeit gegeben, nicht bloß im Fuhrwesen, sondern auch
in der Infanterie zu dienen.109
Darüber hinaus führte das josephinische Patent anstelle der aufgehobenen Ge-
werbe- und Vermögenssteuer einen »Koscherfleischaufschlag« ein. Und statt der frü-
her üblichen Steuer auf die Ehebewilligung wurde angeordnet, dass zur Erlangung
des »Eheconsenses« die Vorlage eines Zeugnisses einer israelitischen Normalschule
vorzulegen sei.110 Die Lehrer dieser von Herz Homberg, dem jüdischen Aufklärer
und Schwiegersohn Moses Mendelssohns, begründeten Schulform sollten »zugleich
als Übersetzer der Gemeinde« tätig sein und waren »in Eidespflicht zu nehmen«. Die
dahinterstehende Absicht war, die überwiegend Jiddisch sprechenden galizischen
Juden und Jüdinnen allmählich zu Trägern einer deutschen Bildungsschicht zu for-
men.111 Die deutschsprachigen jüdischen Volksschulen, an denen im Geist der Auf-
klärung unterrichtet wurde, scheiterten jedoch. Sie wurden 1806 wieder aufgelöst
und mit dem allgemeinen Schulwesen vereinigt.112 Das von Herz Homberg entwi-
ckelte Lehrbuch Bne Zion (Söhne Zions) aber blieb weiterhin für die Erlangung des
jüdischen Ehekonsenses verbindlich.
Gegen die Einführung des »neuen Judensystems« in Galizien, welches viele
Jahre lang vorbereitet worden war, waren seitens des galizischen Landesguberniums
zahlreiche Vorbehalte geäußert worden. Eine 1785 unter dem Vorsitz des Grafen
Gallenberg eingesetzte Kommission hatte 257 galizische Judengemeinden sowie
den Oberlandesrabbiner individualiter protocollando einvernommen. Das Guber-
107 Vgl. Pacholkiv, Social Implications, S. 78.
108 Mit Patent vom 17. Mai 1785, bestätigt im Toleranzpatent vom 7. Mai 1789. Vgl. Svjatoslav Pa-
cholkiv : Die Politik des aufgeklärten Absolutismus und die Judengemeinden Galiziens, in : Früh-
neuzeit-Info, 22 (2011), Heft 1 + 2, S. 75–89, hier : S. 84.
109 Schmidl, Juden in der k.(u.)k. Armee, S. 37.
110 Vgl. Pacholkiv, Politik des aufgeklärten Absolutismus, S. 85.
111 Vgl. ebenda.
112 Gründe für die mit kaiserlichem Dekret vom 26.6.1806 erfolgte Auflösung waren u. a. »pronapo-
leonische Sympathien« der Lehrerschaft und zu geringe Unterweisungen in Religion. Vgl. Dirk Sa-
dowski : Haskala und Lebenswelt : Herz Homberg und die jüdischen deutschen Schulen in Galizien
1782–1806 (Göttingen 2010), S. 377.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271