Seite - 52 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Bild der Seite - 52 -
Text der Seite - 52 -
52 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
betont worden, so ist unübersehbar, dass die nun kodifizierte Staatsbürgerschaft zu
einem bedeutenden Element im Transformationsprozess von einer monarchischen
Union von Ständestaaten hin zu einem einheitlichen Territorialstaat wurde.159 Erst-
mals waren nun für den Geltungsbereich des ABGB genaue Bestimmungen über
den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft getroffen worden. Danach
konnte die Aufnahme in die österreichische Staatsbürgerschaft entweder durch Ab-
stammung : »Die Staatsbürgerschaft ist Kindern eines österreichischen Staatsbürgers
durch die Geburt eigen« (§ 28) oder durch bestimmte Handlungen (ipso facto) er-
folgen, nämlich »durch einen in diesen Staaten vollendeten zehnjährigen ununter-
brochenen Wohnsitz« (die bloße Ersitzung), »durch Eintretung in einen öffentlichen
Dienst« oder »durch Antretung eines Gewerbes, dessen Betreibung die ordentliche
Ansässigkeit im Lande notwendig macht« (§ 29).160 Ausschließungen hinsichtlich
des Standes, der Religion oder ethnischen Zugehörigkeiten fanden sich nicht im Ge-
setz.161 Grundsätzlich hatten die Autoren des bürgerlichen Gesetzbuches Juden vom
Erwerb der Staatsbürgerschaft keineswegs ausschließen wollen162, hatte doch Franz
von Zeiller, Referent der Revisions-Hofkommission, dem Gesetzeswerk einen na-
turrechtlich konnotierten, weltbürgerlichen Schliff gegeben. Doch führten die noch
immer geltenden Sonderrechte hinsichtlich Niederlassungs-, Grundbesitz- oder Ge-
werbefähigkeit für Juden implizit zur Unmöglichkeit, auf diese Weise die Staatsbür-
gerschaft zu erwerben.
Es gab allerdings noch eine weitere Möglichkeit, die Naturalisation zu erlan-
gen. § 30 des Gesetzes bestimmte, dass auch »ohne Antretung eines Gewerbes oder
Handwerkes und vor verlaufenen zehn Jahren (…) die Einbürgerung bei den poli-
tischen Behörden angesucht, und von denselben, nachdem das Vermögen, die Er-
werbsfähigkeit und das sittliche Betragen des Ansuchenden« geprüft worden waren,
verliehen werden könne.163 Diese Möglichkeit stand grundsätzlich auch Juden offen.
Doch auch in diesem Fall war vor der Aufnahme in die Staatsbürgerschaft jedenfalls
159 Vgl. Martin P. Schennach : Der »Österreicher« als Rechtskonstrukt ? Zur Formierung einer öster-
reichischen Staatsbürgerschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in : Zeitschrift für Neuere
Rechtsgeschichte 33 (2011), S. 152–176, hier : S. 175.
160 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für die gesammten deutschen Erbländer der österreichischen
Monarchie (ABGB), (= Kropatscheksche Sammlung) (Wien 1811), S. 257f.
161 Vgl. Rolf Grawert : Staat und Staatsangehörigkeit. Verfassungsgeschichtliche Untersuchung zur
Entstehung der Staatsangehörigkeit (Berlin 1973), S. 146.
162 Als »relatively inclusive« bewertet Ulrike von Hirschhausen das imperiale Staatsbürgerschaftsrecht
der Monarchie nach dem Erscheinen des ABGB. Ulrike von Hirschhausen : From imperial inclu-
sion to national exclusion : Citizenship in the Habsburg monarchy and in Austria 1867–1923, in :
European Review of History – revue européenne d’histoire, Vol. 16/4 (August 2009), S. 551–574,
hier : S. 553.
163 Ebenda.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271