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56 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
Judenschaft unschädlich, die Individuen aber nützlich zu machen«. Diese Absicht,
resümierte Widmann seine vergleichende Analyse der Judensysteme in den einzel-
nen Kronländern, sei
– insbesondere im Hinblick auf Galizien
– noch keineswegs er-
füllt. Widmann gab zu bedenken, dass die Juden »sich den übrigen Staatsbürgern in
einigen Provinzen mehr, aber noch nirgends ganz angeschlossen« hätten. Es könne
ihnen daher noch nicht der volle Anspruch auf alle staatsbürgerlichen Rechte zuge-
standen werden. Zwar sei er weit davon entfernt, »sie als ewige Fremdlinge in der bür-
gerlichen Gesellschaft anzusehen«, plädiere jedoch dafür
– habe der Staat es sich nun
einmal zum Ziel gesetzt, »sie als nützliche Glieder desselben in die Reihe der Staats-
bürger treten« zu lassen
–, diesen Übergang »nicht plötzlich, sondern nur allmählich
und stufenweise« und in jederzeit zu modifizierenden Verfahren zu gestalten.174 Ei-
nige Hofräte sprachen sich indes für eine sofortige »vollkommene Gleichstellung der
Juden mit den übrigen Staatsbürgern« aus, darunter Anton von Roschmann, der in
einem Separatvotum vom 7. November 1818 sowohl für ein Grundbesitzrecht als
auch für die volle Ämterfähigkeit der Juden eintrat. Roschmann, in der Hofkanzlei
u. a. Mitglied der Militärverpflegungskommission, sah nicht ein, warum ein Jude
dem Staat, »für dessen Verteidigung er in den Reihen der Krieger blutet und fällt«,
nicht auch als öffentlicher Beamter dienen könne.175
Auch Freiherr Andreas von Stift – einer der großen Fürsprecher der Juden – äu-
ßerte im Verlauf der Enquete über die Judenreform der Jahre 1817/18 die Meinung,
»das einzige Mittel gegen alle beklagten Übelstände sei, den Juden die Grundbe-
sitzfähigkeit zu geben«.176 Zu einem solchen Schritt aber konnte sich die Landes-
regierung nicht entschließen. Eine 1821 von Graf Barth-Barthenheim herausgege-
bene Gesetzessammlung drückte zwar in der Einleitung emphatisch das Bemühen
um Gleichmäßigkeit aus, doch spiegelte sie zugleich die nach wie vor bestehenden
gesetzlichen Ungleichheiten für Israeliten, etwa in Passangelegenheiten, bei der Ei-
desablegung oder hinsichtlich des Aufenthaltsrechts auf dem flachen Lande, wider.
Vor allem aber betont die Gesetzessammlung die Unterschiede zwischen Tolerier-
ten, zeitlich Tolerierten und Nichttolerierten (fremden Juden).177 Zwar betonte der
Vizekanzler der Hofkanzlei, Freiherr Franz von Pillersdorf, im Februar 1833 – auf
ausländische Kritik reagierend – »er wünsche den Zeitpunkt beschleunigt zu sehen,
wo den Juden, ebenso wie sie zu den Bedürfnissen des Staatsverbandes beitragen und
174 Vortrag der Hofkanzlei (Referent Karl v. Widmann) v. 29. Dezember 1818, abgedruckt in : Příbram,
Urkunden und Akten II, S. 279ff.
175 Seperatvotum von Anton Leopold von Roschmann, ebenda, S. 298f.; weitere Seperatvoten existie-
ren von Hofrat Franz v. Fradeneck und Hofrat Franz v. Stuppan.
176 Zit. nach : Tietze, Juden in Wien, S. 139.
177 Johann Ludwig Barth-Bartenheim : Politische Verfassung der Israeliten im Lande unter der Enns.
Beiträge zur politischen Gesetzeskunde in den österreichischen Kaiserstaaten, Bd. 1 (Wien 1821).
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271