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Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz 57
das gemeinschaftliche Wohl zu fördern verpflichtet und berufen sind, auch an den
Vortheilen dieses Verbandes teilnehmen, und dadurch zuverlässigere und nützlichere
Glieder dieses Vereines werden, als jemals unter dem Bestande von Ausnahmen und
Ausschließungen zu erwarten«178 sei. Doch dies änderte an der »staatsbürgerlichen
Nullität des Judentums«
– wie ein anderer Vertreter der Hofkanzlei sich ausdrückte
–
wenig.
Was sich in diesen Diskussionen spiegelt, ist die vor allem in den deutschen Län-
dern – und hier vornehmlich in Preußen – immer eindringlicher geführte Debatte
um die sogenannte jüdische Frage, (später : »Judenfrage«).179 Die Einlösung von
John Lockes berühmtem Toleranzpostulat : »If we consider a human being a human
being, neither pagans, Muslims, nor Jews can be excluded from the republic of civil
rights«180, scheiterte zum einen daran, dass eine solche republic of civil rights unter
den deutschen Staaten nirgends zu finden war, zum anderen, dass auch die aufge-
klärtesten Geister nicht von der Vorstellung einer der Mehrheit gleichgestellten Min-
derheit ausgingen, sondern von einem Aufgehen der jüdischen Minderheit in einem
christlichen Mehrheitsstaat, wobei Emanzipation zunehmend als eine Art kollektiver
Erziehungsprozess des Judentums vorgestellt wurde, der endgültig erst mit der Kon-
version zum Christentum abgeschlossen wäre.181
Ihren Höhepunkt fand die Debatte um die »Judenfrage«, an der sich seit den
1830er-Jahren zahlreiche, teils anonyme Autoren beteiligten, in der berühmten Kon-
troverse zwischen dem Junghegelianer Bruno Bauer und seinem früheren Schüler
Karl Marx. Bruno Bauer hielt in einem zuerst 1842 in den »Deutschen Jahrbüchern
für Wissenschaft und Kunst« erschienenen Aufsatz, »Die Juden-Frage«, das Streben
der Juden nach gleichberechtigten Staatsbürgerrechten in einem christlichen Staat
für vergeblich. »Bürger wollen die Juden im christlichen Staat werden ?«, rief er aus,
um dann empört fortzufahren : »Fragt doch erst, ob dieser (der christliche Staat)
Bürger und nicht nur Untertanen kennt
…«182 Wahre Emanzipation sei, nach Bauer,
178 Zit. nach : Wolf, Juden, S. 140.
179 Um 1750 tauchte the jewish question zuerst in England auf. Der Begriff meinte zunächst, Juden
den Landerwerb zu gestatten. 1790 diskutierte die Nationalversammlung in Frankreich die Frage
der gesetzlichen Gleichstellung der Juden unter dem Titel : la question sur les juifs. Noch nach dem
Wiener Kongress verwendeten Befürworter und Gegner der Judenemanzipation die Begriffe jüdi-
sche Frage oder Judenfrage in neutraler Weise, erst nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs
1871 erhielt der Begriff Judenfrage eine antisemitische Konnotation.
180 John Locke : Ein Brief über Toleranz (engl.-deutsch). Übersetzt und eingeleitet von Julius Ebbing-
haus (Hamburg 1996), S. 19.
181 Vgl. Frank Surall : Juden und Christen
– Toleranz in neuer Perspektive. Der Denkweg Franz Rosen-
zweigs in seinen Bezügen zu Lessing, Harnack, Baeck und Rosenstock-Huessy (Gütersloh 2003),
S. 49.
182 Bruno Bauer : Die Judenfrage (Braunschweig 1843), S. 20.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271