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58 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
nur dann möglich, wenn sich die Juden ihres Judentums durch Konversion entle-
digten. Auch die Bemühungen von Reformjuden, das Judentum nur noch als Privat-
sache, als eine Konfession unter anderen, zu betrachten, lehnte er ab. Als einzige Lö-
sung sah Bauer einen radikalen Laizismus (verbunden mit einer wissenschaftlichen
Weltanschauung) in einem säkularen Staat nach französischem Vorbild.
Karl Marx hingegen ließ in seiner zwei Jahre später erschienenen Rezension der
Bauerschen Abhandlung das Recht auf Religionsfreiheit als ein allgemeines Men-
schenrecht durchaus gelten. Auch die (wenngleich unvollkommene) politische Eman-
zipation der Juden in einem christlichen Staat hielt Marx grundsätzlich für mög-
lich. Der Widerspruch, in welchem sich der Anhänger einer besonderen Religion
mit seinem Staatsbürgertume befinde, sagt Marx, sei »nur ein Teil des allgemeinen
weltlichen Widerspruchs zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Ge-
sellschaft«. Die Vollendung des christlichen Staates sei der Staat, »der sich als Staat
bekennt und von der Religion seiner Glieder« gänzlich abstrahiere. Doch die Eman-
zipation des Staates von der Religion könne, so Marx, »nicht die Emanzipation des
wirklichen Menschen von der Religion« sein. Und gegen Bauer gewendet fährt er
fort : Weil die Juden sich politisch emanzipieren können, ohne sich »vollständig und
widerspruchslos vom Judentum loszusagen, darum ist die politische Emanzipation
selbst nicht die menschliche Emanzipation.«183 Erst wenn der wirkliche individu-
elle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknehme und als individueller
Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen in-
dividuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden sei, erst wenn der Mensch seine
›forces propres‹ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert habe und daher
die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich
trennte, erst dann sei »die menschliche Emanzipation vollbracht«.184
Beantwortet, wie Marx glaubte, war die »Judenfrage« damit noch lange nicht. Al-
lein zwischen 1873 bis zum Ende des Jahrhunderts erschienen etwa 500 Schriften,
die sich für oder gegen die politische Emanzipation der Juden, d. h. ihre Gleichstel-
lung mit allen anderen Staatsbürgern, aussprachen. Alle diese Schriften und Pamph-
lete bezogen sich überwiegend auf die Verhältnisse im Deutschen Reich (die Juden
der österreichisch-ungarischen Monarchie blieben, mit Ausnahme der Schriften von
Nathan Birnbaum und Theodor Herzl unbedacht), wobei Juden zunehmend als
Hindernis bei der (deutschen) Nationsbildung angesehen wurden. Im Zuge dieser
Debatte bekam der ursprünglich neutrale Begriff Judenfrage eine immer deutlichere
antisemitische Konnotation.
183 Karl Marx : Zur Judenfrage, in : Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 1 (Berlin 1974), S. 361
(Her vorhebungen im Original).
184 Ebenda, S. 370 (Hervorhebungen im Original).
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271