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Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 67
seien.219 Der spätere Reichsratsabgeordnete Heinrich Jaques, der als junger Rechts-
anwaltskandidat im Jahr 1859 jenes, wie er sagte, »schmerzensschwere Stück öster-
reichischer Rechtsgeschichte« zusammengefasst hat, befand über die Zeit des Neo-
absolutismus, »dass die Praxis in allen nur irgend dem Gesetze nach zweifelhaften, ja
selbst in nahezu unzweifelhaften Fällen gegen die Juden entschieden habe, dass man
z. B. bei keiner politischen, bei keiner Justizbehörde im ganzen Kaiserreiche auch
nur in den niedersten Beamtenstellen (…) einen Juden angestellt finden wird«.220
Erst der verlorene Krieg gegen Italien im Jahr 1859 ließ den Neoabsolutismus
obsolet erscheinen. Innere Reformen und die allmähliche Rückkehr zu verfassungs-
mäßigen Zuständen, vor allem aber ständiger Druck aus dem Ausland, brachten
den Juden allmählich ihre Rechte zurück. Zwar konnte sich die Regierung nicht zu
einer vollkommenen Gleichstellung der Juden, wie sie etwa Joseph Wertheimer in
seiner im Herbst 1859 veröffentlichten Schrift : »Die Regelung der staatsbürgerli-
chen Stellung der Juden in Österreich« forderte, entschließen, doch setzte sie im-
merhin kleine Schritte in die richtige Richtung. Ende Oktober 1859 sprach sich die
Mehrheit der Ministerkonferenz für die Rücknahme des in Galizien (und Ungarn)
für Juden bestehenden Verbots, christliche Dienstboten zu beschäftigen, aus. In-
nenminister Gołuchowski, der ehemalige Statthalter von Galizien, hatte das Gesetz
zunächst mit dem Argument verteidigt, »christliche Dienstboten würden bei Juden
demoralisiert und der christlichen Religion entfremdet«. Doch als Ministerpräsi-
dent Rechberg in der Ministerkonferenz vom 29. Oktober 1859 von den »immer-
währenden Angriffen der in- und ausländischen Presse, denen Österreich in dieser
Frage ausgesetzt sei«, berichtete, wurde das Verbot auf Antrag des Innenministers
schließlich aufgehoben.221 Im Vortrag Gołuchowskis wurde die Aufhebung vor al-
lem mit wirtschaftlichen und sozialen Argumenten begründet. Da man Juden jetzt
vermehrt als Gewerbetreibende gewinnen wolle (eine neue Gewerbeordnung war
in Vorbereitung), schließe das ein Verbot, christliche Dienstboten zu beschäftigen,
geradezu aus.222 Weiters erfolgte unter der Regierung Rechberg : die Aufhebung
aller Sonderbestimmungen betreffend die Eheschließung von Juden im Allgemei-
nen bürgerlichen Gesetzbuch223 ; die Aufhebung des Verbots des Aufenthalts von
Juden in Bergbaustädten und -orten Ungarns und Böhmens224 ; die Aufhebung von
Gewerbebeschränkungen für Juden im Apotheken-, Mühlen-, Brauerei-, Brennerei-
219 Vgl. Wolf, Juden, S. 158.
220 Jaques, Denkschrift, S. XCVII.
221 Ministerratskonferenz vom 29. Oktober 1859. ÖMProt. IV/1, Das Ministerium Rechberg, bear-
beitet von Stefan Malfèr (Wien 2003), Einleitung, S. LVIIIf.
222 Ebenda, S. LX.
223 MK v. 29.10.1859/VII und am 1.11.1859/IV.
224 MK v. 17.11.1859/V.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271