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72 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
zu allererst durch Geburt. Fremde erwarben es entweder durch einen zehnjährigen
ununterbrochenen Aufenthalt oder durch Verehelichung (bei Frauen), durch Antre-
tung des Bürger- und Meisterrechtes, Ankauf eines Grundstückes oder Antretung
eines öffentlichen Dienstes.241 Von den letzten drei Erwerbsarten waren Juden bis
1849 grundsätzlich ausgeschlossen, sodass sie de facto nur nach dem Erwerbsgrund
des zehnjährigen ununterbrochenen Aufenthalts das Heimatrecht in einer Stadtge-
meinde erwerben konnten.
Spätestens mit der Einführung des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches im
Jahr 1811 trat neben das Heimatrecht die Staatsbürgerschaft als neues, wesentlich
umfassenderes Instrument der Bestimmung von Zugehörigkeit und Einheimischsein.
Das Nebeneinander zweier verschiedener Konzeptionen der Integration, der »mo-
dernen« staatsbürgerlichen in den großen Raum der österreichischen Monarchie und
der älteren heimatrechtlichen in den engen Raum der Gemeinde, bestimmte fortan
nicht nur den Rechtsstatus einer Person, sondern in hohem Ausmaß auch deren Iden-
tität. In der Praxis führte dieses Nebeneinander zweier unterschiedlicher Rechtsinst-
rumente zu zahlreichen Ungereimtheiten und Unschärfen.242 Obwohl staatsrechtlich
ein klares Primat der Staatsbürgerschaft über das Heimatrecht postuliert war243, hatte
diese in der Alltagspraxis eine ungleich geringere Bedeutung als das die konkreten
Lebensverhältnisse der Menschen viel stärker berührende Heimatrecht.
Mit dem nach der Bürgerlichen Revolution von 1848 – allerdings bloß vorü-
bergehend – sich durchsetzenden liberalen Konstitutionalismus gewann das Hei-
matrecht zusätzlich Terrain gegenüber der Staatsbürgerschaft. Die freie Gemeinde
wurde zum Baustein der neuen politischen Ordnung. »Zum Staatsbürgertume muss
man durch das Gemeindebürgertum kommen«, lautete eines der Grundprinzipien
der (oktroyierten) Märzverfassung und des provisorischen Gemeindegesetzes von
1849.244 Nach den neuen gesetzlichen Bestimmungen konnte die Aufnahme aus-
drücklich, d. h. durch Gemeindebeschluss oder stillschweigend – nach jetzt bloß
vierjährigem Aufenthalt – erfolgen.245 Das provisorische Gemeindegesetz von 1849
241 Vgl. Wendelin, Heimatrecht S. 198f.
242 Ebenda, S. 215.
243 Nach Joseph Ulbrich ist »die österreichische Staatsbürgerschaft durchaus das primäre Verhältnis,
das Heimatrecht ist ein sekundäres Verhältnis, welches an die Voraussetzung der Staatsbürgerschaft
gebunden ist«. Joseph Ulbrich : Das österreichische Staatsrecht (Tübingen 1904), S. 95.
244 Jiří Klabouch : Die Gemeindeverwaltung in Österreich 1948–1918 (Wien 1986), S. 32.
245 »Die Aufnahme in den Gemeindeverband erfolgt entweder : a) durch förmlichen Gemeindebe-
schluß oder b) stillschweigend durch Duldung eines ohne Heimatschein oder mit einem bereits
erloschenen Heimatschein sich durch vier Jahre ununterbrochenen in der Gemeinde aufhaltenden,
die österreichischen Staatsbürgerschaft besitzenden Fremden, endlich c) bei Frauenpersonen durch
die Verehelichung mit einem Gemeindegliede.« § 12 des provisorischen Gemeindegesetzes v.
17. März 1849, RGBl. Nr. 70/1849, zit. nach : Goldemund, Staatsbürgerschaft, S. 588.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271