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94 Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs
ter der jüdischen Dienstmagd Anna Singer sei und Julia Singer heiße. Das Kind sei
bald nach seiner Geburt zu einem Schneidermeister in M. (unleserlich) in Pflege ge-
kommen und dort bis zur Erreichung des »Normalalters« (das Schuleintrittsalter) ge-
blieben, dann nach Wien zurückgeschickt und vom Wiener Magistrat am 9. August
1888 der Pfandlerin Franziska Sedlaczek, in Wien-Hernals, zur Pflege übergeben
worden. Das Mädchen sei jedoch noch am selben Tag von dort geflohen, herumge-
streift, bis es schließlich in Rohrbach aufgegriffen wurde. Auf Anfrage der Gemeinde
Rohrbach, was mit dem Mädchen geschehen solle, erwiderte der Wiener Magistrat,
dass sie sich wegen der Heimbefürsorgung des Kindes an dessen Heimatgemeinde
Kukló/Kuklov (im Akt Kuklo), im Pressburger Komitat, Ungarn, wenden möge. Die
Annahme, dass Julia Singer nach Kukló zuständig sei, beruhe auf der Tatsache, dass
deren Mutter, Anna Singer, bei ihrer Aufnahme in das Wiener Gebärhaus einen von
der israelitischen Kultusgemeinde Kukló ausgestellten Heimatschein vorgewiesen
habe. Die Gemeinde Rohrbach habe sich zunächst direkt an die Gemeinde Kukló
und, als diese keine Antwort gab, an die Bezirkshauptmannschaft Lilienfeld gewandt,
welche die Gemeinde Kukló zur Übernahme des Kindes und zum Ersatz der inzwi-
schen für dasselbe erwachsenen Verpflegungskosten von fünfundzwanzig Tagsätzen
verhalten habe.
Aus Mitteilungen der Landesgebär- und Findelanstalt326 ging hervor, dass Anna
Singer die Anstalt insgesamt fünfmal aufgesucht und dort die unehelichen Kinder
Juliana, Rudolf, Julia, Gisela, Gisela Nr. 2 und Wilhelmine geboren habe. Sie habe
dabei jedes Mal einen Heimatschein, ausgestellt von der israelitischen Kultusge-
meinde Kukló, vorgelegt, von wo auch die Gebärhauskosten aufgebracht worden
seien. Der in Dojcs/Dojč), im ungarischen Komitat Neutra, ansässige Vater Anna
Singers, Michael Singer, gab bei seiner Einvernahme vor der Bezirkshauptmann-
schaft an, er habe die Spiritusbrennerei erlernt und in Kukló, wo er als Branntwein-
brenner beschäftigt war, die dort zuständige Franziska Kampi geheiratet. Im Jahre
1851 sei er nach Dojcs übersiedelt, habe dann in verschiedenen ungarischen Ge-
meinden gearbeitet, bis er im Jahr 1863 nach Kukló zurückgekehrt sei, wo er sich als
zuständig betrachte. Dass Kukló seine Gemeindangehörigkeit anerkannt habe, sei
daraus zu erkennen, dass sie seinen Kindern zwecks Erlangung von Dienstboten-
büchern entsprechende Zuständigkeitszertifikate ausgestellt habe. Gegenwärtig lebe
er wieder in Dojcs und zwar von der Mildtätigkeit seiner Kinder. Im Zuge eines
Feststellungsverfahrens waren nun verschiedene ungarische Gemeinden, insbeson-
dere Kukló, wiederholt aufgefordert worden, die Zuständigkeit des Michael Singer
anzuerkennen, wozu aber keine zu bewegen gewesen war. Die Gemeinde Kukló be-
326 Zu dieser Institution siehe : Verena Pawlowsky : Mutter ledig, Vater Staat. Das Gebär- und Findel-
haus in Wien 1784–1910 (Wien 2001).
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271