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98 Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs
bürgerschaft aus religiösen Gründen (vor allem wegen der mit der Staatsbürgerschaft
verbundenen Verpflichtung zur Wehrdienstleistung) zu entziehen. So schlugen im
Falle des in Lemberg/Lwów/L’viv ansässigen Aron Moses Taubes alle Bemühungen
der galizischen Behörden um Feststellung seiner Staatsbürgerschaft fehl. Aron Moses
Taubes, Sohn des Rabbiners Chaim Taubes, hielt sich selbst, laut protokollarischer
Einvernahme vor der Bezirkshauptmannschaft Lemberg, für einen rumänischen
Staatsangehörigen. Bei den Erhebungen über seine Stellungspflicht war festgehalten
worden, dass er das Heimatrecht in Lemberg nicht besitze. Jahrelange Bemühungen
um eine Verifizierung seiner behaupteten rumänischen Staatsbürgerschaft verliefen,
da die rumänischen Behörden die Kooperation verweigerten, im Sande. Die »mögli-
cherweise absichtlich verwirrenden Angaben« des Aron Moses Taubes machten, wie
es in einem Bericht des galizischen Statthalters an das Innenministerium resignierend
heißt, am Ende »weder die Stellung noch die Abschiebung möglich«.335
Zwar kamen derlei Verweigerungen aus religiösen Gründen bei orthodoxen gali-
zischen Juden häufiger vor336, doch generell geht aus den eingesehenen Akten eher
eine hohe Wertschätzung des Rechtgutes der Staatsbürgerschaft hervor. So suchte im
Juni 1914 – knapp vor dem Ersten Weltkrieg – der seit vierzehn Jahren in Triest le-
bende Dr. Moritz (Maurizio) Augenfeld mit der Begründung um die österreichische
Staatsbürgerschaft an, dass er durchaus nicht mehr die Absicht habe, nach Ungarn
zurückzukehren, da seine »ältere Tochter hier in Triest angestellt« sei und er hoffe,
die jüngere Tochter »eventuell in eine Staatsanstellung unterzubringen«. 337
Die meisten der eingesehenen Protokolle jüdischer Bewerber und (ganz selten)
Bewerberinnen um Aufnahme in einen Gemeindeverband (die Erlangung des Hei-
matrechts) und um Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft drücken eine
zunehmend selbstbewusste Haltung gegenüber den staatlichen Behörden aus. Die
Erwerbung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft war nicht nur ein Indikator für
Aufstieg und Erfolg, sondern auch ein Zeichen für Angekommensein, für gelungene
Integration – für Verortung. Motive für die Anträge waren, neben dem erhofften
leichteren Zugang zu Staatsämtern, vor allem die soziale und rechtliche Absicherung
der Kinder sowie der Wunsch, nicht mehr als Fremde im eigenen Land leben zu
müssen. Die häufig teuren und langwierigen Naturalisierungsverfahren338 bedeute-
335 AVA Inneres, Fasc. 8, Staatsbürgerschaft in genere, 1870ff, Karton 354, Nr. 13718/93.
336 AVA Inneres, Fasc. 8, Staatsbürgerschaft in genere, 1870ff, Karton 355, No. 3549/95, Bericht der
Statthalterei in Lemberg betr. Heimatsache Felix Teitelbaum, u. a.
337 AVA Inneres, Staatsbürgerschaft, Fasc. 8, Staatsbürgerschaft in genere, 1914, Nr. 30.667.
338 Die Einbürgerung selber wurde am Tag der Eidesablegung mit 50 Kronen vergebührt (im Jahr
1878), diese Grundkosten verteuerten sich jedoch fallweise durch einzelne beizubringende über-
setzte, beglaubigte und überbeglaubigte Dokumente, z. B. 15 Kronen für die beglaubigte Entlas-
sungsurkunde aus der ungarischen Staatsbürgerschaft.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271