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102 Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit
sonders hart, werden nicht selten als finstere Zwangsanstalten beschrieben. Auch in
Kafkas Jugend gab es die Gestalt des unerbittlich strengen und gefürchteten Mathe-
matik- und Physikprofessors, sein Name : Gustav Effenberger.
In Kafkas fünftes Gymnasialjahr, das Jahr 1897, fiel die Badeni-Krise
– ein Höhe-
punkt des Nationalitätenkampfes. Tschechisch als »innere Amtssprache«, die zwei-
sprachige Amtsführung aller Zivilbehörden und die unabdingbare Kenntnis beider
Landessprachen für Beamte standen auf der politischen Agenda. Die Intention der
Badenischen Sprachenverordnungen war, kurz gesagt, ein Mehr an Sprachgerechtig-
keit für die tschechische Bevölkerung Böhmens und Mährens. Was jedoch auf den
Erlass der Verordnungen folgte, war eine Orgie an Gewalt und politischer Dumm-
heit. Antitschechische und antisemitische Pöbeleien im Abgeordnetenhaus und auf
den Straßen führten zur Lähmung des Parlaments und am Ende in eine Staatskrise,
die den von vielen als unvermeidlich gesehenen Untergang der Monarchie vorweg-
zunehmen schien. Nach der Entlassung des Ministerpräsidenten Graf Casimir Ba-
deni ließen enttäuschte Tschechen ihre Wut vor allem an den Juden aus : »Nieder mit
den Deutschen, nieder mit den Juden !« tönte der Ruf vor dem Deutschen Theater in
Prag. Bei tagelang anhaltenden Ausschreitungen kam es zu Plünderungen vor allem
jüdischer Geschäfte. Als die neue Regierung am 2. Dezember 1897 das Standrecht
über Prag verhängte, waren drei Tote und viele Schwerverletzte zu beklagen.346
Das elterliche Geschäft am Altstädter Ring war von den Ausschreitungen nicht
betroffen. Der Vater, Hermann Kafka, hatte schon bei der Volkszählung im Jahr
1890 Tschechisch als Umgangssprache für die Familie angegeben und – zumindest
im geschäftlichen Bereich – sich dieser Sprache auch bedient. Sein Sohn nahm ab
der dritten Volksschulklasse auf väterlichen Wunsch hin am Unterricht in der tsche-
chischen Sprache teil347, nicht als »Freifach«, wie einige seiner Biographen meinen,
sondern als relativ obligater Unterrichtsgegenstand. »Relativ obligat« bedeutete in der
Sprache der Hochbürokratie – entsprechend dem im Artikel 19 des Staatsgrundge-
setzes ausgesprochenen »Sprachenzwangsverbot« – die freiwillige Verpflichtung, am
Unterricht in der zweiten Landessprache (in diesem Fall »Böhmisch«) teilzunehmen.
Tatsächlich blieb Franz Kafka auch während seiner Gymnasialzeit dem relativ ob-
ligaten Unterrichtsfach Tschechisch treu. Obwohl zeitlebens mit seinen Tschechi-
schkenntnissen unzufrieden, war er nicht zuletzt deshalb der tschechischen Spra-
che in Wort und Schrift unvergleichlich besser mächtig als viele seiner jüdischen
Freunde348 – ein Umstand, der ihm bei seinem späteren beruflichen Werdegang
346 Zur Badeni-Krise siehe : Hannelore Burger/Helmut Wohnou : Eine »polnische Schufterei« ? Die
Badenischen Sprachenverordnungen für Böhmen und Mähren 1897, in : Michael Gehlen/Helmut
Sickinger (Hg.) : Politische Affären und Skandale in Österreich (Wien/München 1995), S. 79–98.
347 Vgl. Binder, S. 126 ; Hermes, Kafka, S. 14.
348 Vgl. Binder, Kafka, S. 126.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271