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104 Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit
von 1867 veränderte sich der Charakter der österreichischen Staatsbürgerschaft
grundlegend,355 bedeutete doch die Gewährung konkreter politischer Rechte
– etwa
des Wahlrechts
– auch eine Schließung des Staates. Mit der Einführung des direkten
(nicht aber allgemeinen) Wahlrechtes durch die Wahlrechtsreform der Regierung
Auersperg im Jahr 1873, die in gewisser Weise den Abschluss der liberalen verfas-
sungspolitischen Reformen bildete, waren Juden in allen vier Wählerkurien (fak-
tisch allerdings nur in Kurie II : Städte und Märkte und Kurie III : Handels- und
Gewerbekammern) wahlberechtigt, sofern sie mindestens 10 Gulden direkte Steu-
ern zahlten (was etwa bei 12 Prozent der wahlfähigen Bevölkerung Cisleithaniens
der Fall war, darunter auch Frauen, diese allerdings nur in der Wählerklasse I, dem
Großgrundbesitz). Eine neue schärfere Grenze verlief nun zwischen Besitzenden
und Nichtbesitzenden, zwischen Männern und Frauen, Inländern und Ausländern
–
nicht aber mehr zwischen Christen und Juden.
Eine fast unmittelbare Folge des Staatsgrundgesetzes (und der Folgegesetzgebung)
war, dass Juden in nie zuvor da gewesener Weise begannen, in allen Bereichen des
öffentlichen Lebens zu partizipierten : in Kunst und Kultur, Medizin und Justiz, in
der Wirtschaft und im Journalismus (einzig der Bereich des öffentlichen Dienstes –
der Staatsdienst – blieb ihnen durch ein ungeschriebenes Gesetz, das vorsah, nur
getaufte Juden in den Staatsdienst aufzunehmen, weitgehend verschlossen). Zum
Schlüssel dieser Partizipation aber wurde das Bildungswesen, eine allgemeine (nicht-
religiöse) Schul- und Hochschulbildung.356 Bildung hat in der Tradition der Has-
kala, jener durch Moses Mendelssohn geprägten Form jüdischer Aufklärung, die
Bedeutung von westlicher (deutscher) Kultur im Sinne des humanistischen Ideals,
gepaart mit dem spezifisch jüdischen Aspekt eines moralischen Gebots.357 Danach
wäre der Mensch ganz Mensch nur als ein gebildeter. Bildung im jüdischen Sinn ist
daher immer auch eine religiöse Pflicht.358 Jüdische Kinder profitierten dann auch
355 Martin Schennach wies unlängst darauf hin, dass mit der Konstitutionalisierung des Kaiserstaates
die Staatsbürgerschaft eine veränderte verfassungsrechtliche Bedeutung erfahren habe, da Staats-
bürgerschaft nun im Bereich der Grundrechte angesiedelt worden sei. Vgl. Schennach, Österreicher
als Rechtskonstrukt, S. 176.
356 Den engen Zusammenhang von Allgemeinbildung und Staatsbürgerschaft für die deutschen Staa-
ten betont Ingrid Lohmann, in : dieselbe : Die Juden als Repräsentanten des Universellen. Zur
gesellschaftspolitischen Ambivalenz klassischer Bildungstheorie, in : Pluralität und Bildung, Ingrid
Gogolin et al. (Hg.) (Opladen 1998), S. 153–178. Zur Bedeutung von Bildung im (jüdischen)
Bürgertum siehe auch : Gary B. Cohen : Education and Middle-Class Society in Imperial Austria
1848–1918 (West Lafayette/Indiana 1996), S. 147–148, 255–58, 278f.
357 Zur Bedeutung von Bildung als Mittel der Integration von Juden ins Bürgertum siehe : Simone
Lässig : Jüdische Wege ins Bürgertum (Göttingen 2004).
358 Vgl. Steven Beller : Patriotism and the National Identity of Habsburg Jewrey, 1860–1914, in : Leo
Baeck Institute Year Book XVI (1996), S. 215–238, hier : S. 218f.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271