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Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 113
dern auch für den bemerkenswerten Umbau, den das Unterrichtswesen in sprach-
nationaler Hinsicht in den letzten Jahrzehnten der Monarchie erfahren hat, büßten
doch nach dem Ende der liberalen Ära Schulen mit deutscher Unterrichtssprache
und zwar sowohl im Volks- als auch im Mittelschulbereich ihre zuvor dominante
Stellung ein. Lagen bei den Volks- und Bürgerschulen die Zahl der deutschspra-
chigen Schulen im Schuljahr 1912/13 mit 36,6 Prozent nur mehr knapp über dem
deutschen Bevölkerungsanteil (in Cisleithanien 35,6 Prozent), so sanken bei den
Gymnasien und Realgymnasien die Anstalten mit deutscher Unterrichtssprache von
60,3 Prozent im Schuljahr 1872/73 auf 42,6 Prozent im Schuljahr 1913/14 ; umge-
kehrt stieg der Anteil der Gymnasien etwa mit tschechischer Unterrichtssprache im
gleichen Zeitraum von 17,2 auf 21 Prozent (bei einem tschechischen Bevölkerungs-
anteil von 23 Prozent).392 Der Tendenz nach zeigte sich an Mittelschulen hinsicht-
lich der Unterrichtssprachen eine allmähliche Angleichung an die realen Bevölke-
rungsverhältnisse. Dabei erreichte der Anteil jüdischer Gymnasialschüler um 1880
seinen Höhepunkt, um dann ab 1900 wieder leicht abzusinken.393
Ursächlich für das Zurückgehen des Prozentsatzes jüdischer Schüler an den Mit-
telschulen deutscher Unterrichtssprache nach der Jahrhundertwende war zweifellos
der Aufstieg der nichtdeutschen Nationalitäten in der konservativen Ära Taaffe, von
denen sich eine nach der anderen ihren Anteil am Unterrichtswesen eroberte. Ein
weiterer Grund dürfte im steigenden Antisemitismus zu suchen sein, auf den Ju-
den zum einen mit Assimilation (zur jeweiligen Mehrheitsbevölkerung) oder Flucht
aus dem Judentum (Konversionen, Austritte, Mischehen), zum anderen mit Hin-
wendung zum Nationaljudentum bzw. Zionismus reagierten, manchmal auch zum
Internationalismus der Arbeiterbewegung. All das führte dazu, dass Juden, wie das
Beispiel der Familie Kafka zeigt, ab den 1890er-Jahren nicht selten einen Sprach-
wechsel (häufig allerdings bloß einen Wechsel des Bekenntnisses) vornahmen.394 Die
Umgangssprachenzählungen (im Rahmen der Volkszählungen 1890 bis 1910) zeigen
deutlich, dass die einst so fest gefügte Klammer um Judentum und deutsche Kul-
tur, Liberalismus und Fortschrittsglaube sich aufzulösen begann. So bekannten sich
1900 bereits 55,2 Prozent der Prager Juden zur tschechischen Umgangssprache.395
Ähnliche Tendenzen zeigten sich auch in Galizien, wo es 1910 zu einer manifesten
392 Ebenda, Tabelle 4A, S. 256.
393 Vgl. Rozenblit, Juden Wiens, Tabelle 5.1, 5.2, S. 112f.
394 Vgl. Nekular, Franz Kafkas Sprachen und Identitäten, S. 145f. Siehe dazu auch die eindrucksvolle
Schilderung des Wechsels der Unterrichtssprache am ehemals deutschsprachigen k. k. Staatsgym-
nasiums in Brody ab dem Jahr 1896, in : Kuzmany, Brody, S. 222.
395 Emil Brix : Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation. Die Spra-
chenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910 (= Veröffentlichungen der
Kommission für neuere Geschichte Österreich 73) (Wien/Köln/Graz 1982), S. 438.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271