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120 Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit
Monarchie zu einem modernen Nationalitätenstaat auf Grundlage der sogenannten
personalen Autonomie forderte414, so griff er dabei auf Instrumente zurück, die er im
Wesentlichen von Adolph Fischhof, dem jüdischen Arzt und Haupt der Märzrevolu-
tion von 1848, übernommen hatte, der in seiner
– bereits oben erwähnten
– überaus
populären Schrift »Österreich und die Bürgschaft seines Bestandes« eine Föderalisie-
rung Cisleithaniens gefordert hatte, wobei ein sorgfältig ausgearbeitetes Nationalitä-
tengesetz sowie das Instrument des Kuriatvotums dem »nationalen Frieden« dienen
sollten. (»Kuriatvotum« meinte die gesonderte Abstimmung nach nationalen Kurien
in den verschiedenen Verwaltungskörpern der Monarchie, insbesondere den Orts-
und Bezirksgemeinden415).
Rund zwanzig Jahre später, im Vorfeld der Verhandlungen um einen böhmischen
Ausgleich, bemerkte Fischhof stolz, dass sich seine Vorstellungen hinsichtlich der na-
tionalen Abgrenzung der Bezirke, insbesondere aber das Kuriatvotum, »jenes Schild,
das den nationalen Minoritäten sichere Deckung bietet«, überall durchgesetzt hät-
ten.416 Doch als deutschböhmische Abgeordnete im Zuge der Ausgleichsverhand-
lungen nun auch die Teilung des böhmischen Landesschulrats in eine deutsche und
eine tschechische Sektion verlangten, lehnt Fischhof dies schroff ab. Plötzlich warnte
er davor, dass »der Deutsche« sich im »herrlichen Böhmerland« hermetisch hinter
»einer mehrfachen Kette von Verschanzungen« abschließe. Und in fast Bolzanischer
Diktion fragt er, ob denn »die Hebung der Schule, die Pflege der wichtigsten Kultur-
stätten des Landes, nicht ein gemeinsames Interesse, nicht eine solidarische Pflicht«
sei ? Es ist, als ahnte er, dass die von ihm selbst erdachten Instrumente am Ende
nicht nur dahin führen könnten, die Völker nach dem Prinzip der »sicheren Zäune«
von einander fern zu halten (um damit den nationalen Frieden zu sichern), sondern
sie einander »immer mehr zu entfremden«.417
Und noch knapp vor dem Ersten Weltkrieg – der mährische und der bukowini-
sche Ausgleich waren politische Realität und die nationale Trennung von Institu-
tionen längst Routine geworden – widmete der neugewählte Rektor der Universi-
tät Wien, der Verfassungsrechtler Edmund Bernatzik, seine Inaugurationsrede den
rechtlichen Problemen der nationalen Autonomie. Nachdem letztere »ein politisches
414 Vgl. Rudolf Springer (Karl Renner) : Grundlagen und Entwicklungsziele der Österreichisch-Unga-
rischen Monarchie (Wien/Leipzig 1906), siehe dazu auch : Robert Kann, Nationalitätenproblem,
S. 162f.
415 Adolph Fischhof, Österreich und die Bürgschaft seines Bestandes (Wien 1870), S. 137f.
416 Adolph Fischhof : Der österreichische Sprachenzwist. Ein Wort aus Anlass der diesjährigen histori-
schen Gedenktage (Wien 1888), S.
7. Eine Formulierung, die sehr nah an jenen »sicheren Zäunen«
ist, wie sie etwa ein Michael Walzer für ethnische und religiöse Minderheiten im heutigen Amerika
verlangt. Siehe : Michael Walzer : Über Toleranz. Von der Zivilisierung der Differenz (Hamburg
1998), S. 105 u. 123f.
417 Vgl. Fischhof, Sprachenzwist, S. 34.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271