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Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 121
Prinzip von unwiderstehlicher Stoßkraft« geworden, und es bereits zu einer »partiel-
len Ersetzung des bisher im öffentlichen Recht geltenden Territorialprinzips durch
das Personalitätsprinzip« gekommen sei, stelle sich, so Bernatzik, das Problem, auf
welcher rechtlichen Grundlage die nationale Trennung der Bevölkerung vorgenom-
men werden solle.418 Alle politischen Instrumente, die im Rahmen der Ausgleichs-
verhandlungen geschaffen worden seien, hätten einen empfindlichen Mangel : den
Mangel feststellbarer Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer Nationalität.419 Anlass
für seine Intervention war die wenige Wochen zuvor ausverhandelte neue Landes-
und Landeswahlordnung für die Bukowina, die neben den fünf sozialen Wählerklas-
sen ebenso viele nationale Kurien vorsah : eine ruthenische, eine rumänische, eine
polnische, eine deutsche und
– die eigentliche Sensation des Bukowina Ausgleichs
–
eine jüdische. Zum Glück habe, so Bernatzik, die Regierung letztere zurückgewie-
sen, doch da ähnliche Reformen auch in Böhmen, Istrien und anderen Ländern zu
erwarten seien, sei die Einführung nationaler Matriken (die Einschreibung der Be-
völkerung in getrenntnationale Verzeichnisse) unabdingbar. Darüber hinaus müsse,
meint Bernatzik, in einem Gesetz versucht werden, »Nationalität im objektiven und
im subjektiven Sinne festzustellen«.420 Da nun in der Monarchie nur die Sprache als
eindeutiges Zeichen der Nationalität anerkannt werde, hätte ein solches Gesetz ein-
deutig festzustellen, welche Sprachen und Nationalitäten durch Artikel 19 geschützt
seien, ob etwa Ladiner »mit den Italienern identisch« seien, oder, »ob Juden eine
besondere Nationalität bilden – wenigstens jene Juden, welche sich als Nationalität
bekennen wollen.«421 Für Bernatzik, der die »Kühnheit und Originalität« der mähri-
schen Gesetze pries, war das Problem der Zuordnung von Juden in das neu geschaf-
fene Instrument des Wahlkatasters jedenfalls nicht gelöst. Lange Zeit hatten sich
die Juden dem »Nationalitätenzwist«, wie es der junge Floridsdorfer Rabbiner Dr.
Joseph Bloch nannte, verweigert, in gewisser Weise schienen sie die einzig übrigge-
bliebenen Österreicher zu sein, »Österreicher sans phrase«, wie es in einem Artikel der
von Bloch gegründeten Österreichischen Wochenschrift hieß.422 Doch die immer be-
drohlicheren Zeichen eines neuen Antisemitismus in den 1880er-Jahren
– zuerst im
Deutschen Reich mit dem hässlichen Berliner Antisemitismusstreit und etwa zwei
Jahre später mit der Rohling-Affäre in Österreich, weiters mit dem Linzer Programm,
418 Edmund Bernatzik, Über nationale Matriken (Wien 1910), S. 17.
419 Ebenda, S. 19.
420 Ebenda, S. 24.
421 Ebenda, S. 25.
422 In einem Leitartikel in der Ausgabe vom 20. Februar 1885 hieß es : »Wenn die österreichische
Na tio nalität konstruiert werden könnte, so würden die Juden ihren Grundstock bilden«. Zit. nach :
Jacob Toury : Troubled Beginnings : The Emergence of the Österreichisch-Israelitische Union, in :
Leo Baeck Institute Year Book XXX (1985), S. 456–475, hier : S. 463.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271