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Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 123
Seite machte sich allerdings auch die französische Variante geltend. In der sich jetzt
national ausdifferenzierenden Gesellschaft wurden Juden zunehmend – wie es im
Sprachgebrauch der Action Française hieß
– zu Metöken, die, wie es dem jüdischen
Abgeordneten Adolf Stránsky vorgeworfen wurde, weil sie Juden waren, »für die hei-
ligsten Interessen der Völker (…) keinen Sinn und kein Verständnis« hätten.428
Wann immer in der Folgezeit Deutsche mit Tschechen und Tschechen mit Deut-
schen aneinander gerieten, waren es bevorzugt Juden, die dabei zu Schaden kamen.
Als im Oktober 1899 alle Sprachenverordnungen sistiert wurden, kam es wieder zu
schweren Unruhen in Prag und Brünn. Zum besonderen Opfer der Gewalt aber
wurden die mährischen Juden. In mehreren Gemeinden kam es zu pogromartigen
Exzessen gegen die jüdische Bevölkerung, die, wie Richard Charmatz zutreffend be-
merkt, bisher »mehr zwischen den beiden Nationen als mit ihnen gelebt hatten«.429
Im gleichen Jahr erregte der Hilsner-Prozess weit über Böhmen hinaus die Öffent-
lichkeit. In einer nicht zuletzt durch das Erscheinen der Masse auf der politischen
Bühne geschürten Hysterie kam es zu einer fatalen Verschmelzung von Nationalis-
mus, Antisemitismus und den neuen Rassentheorien mit der mittelalterlichen Ri-
tualmordlegende.430 Eine Folge dieses über Jahre sich erstreckenden Justizskandals
war eine immer deutlichere Ethnisierung des Sprachen- und Nationalitätenkampfes.
Weitmöglichste Trennung der Nationalitäten schien vielen politischen Akteuren der
einzig gangbare Weg zu sein.
Dass es in Mähren – anders als in Böhmen – nach siebenjährigen Verhandlun-
gen gelang, einen Ausgleich zwischen den Nationalitäten zu erzielen, wurde allge-
mein als ein Zeichen der Hoffnung empfunden. Der aus vier Teilgesetzen beste-
hende mährische Ausgleich : eine Landesordnung, eine Landeswahlordnung, ein
Gesetz über den Gebrauch der Landessprachen bei den autonomen Behörden
sowie ein Gesetz über die Organisation der Schulaufsichtsbehörden431 galt vie-
428 Stenographische Protokolle des Abgeordnetenhauses, XIII. Session, 18. Sitzung, 26. Oktober 1897,
S. 961.
429 Richard Charmatz : Österreichs innere Geschichte von 1848 bis 1907, Bd. 2, Der Kampf der Na-
tionen (Leipzig 1912), S. 138.
430 Der 22-jährige Schustergeselle Leopold Hilsner wurde des Ritualmordes an einer jungen Frau im
ostböhmischen Polná beschuldigt und nach einem in ganz Europa aufsehenerregenden Prozess
zum Tode verurteilt, von Kaiser Franz Joseph später zu lebenslanger Haft begnadigt. Der spätere
erste Präsident der Tschechischen Republik Tomáš G. Masaryk regte mit öffentlich publizierten
Stellungnahmen eine Revision des Hilsner-Prozesses an. Leopold Hilsner wurde nach 19-jähriger
Haft in den letzten Tagen des Ersten Weltkrieges entlassen. Ausführlich zum Hilsner-Prozess siehe :
Benno Wagner : Kafkas Polná. Schreiben jenseits der Nation, in : Marek Nekula (Hg.) : Juden zwi-
schen Deutschen und Tschechen im 19. und 20. Jahrhundert (Tübingen 2006), S. 151–172.
431 Grundlegend zum Gesetzeswerk des Mährischen Ausgleichs : Horst Glassl : Der Mährische Aus-
gleich (München 1967).
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271