Seite - 124 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Bild der Seite - 124 -
Text der Seite - 124 -
124 Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit
len als das Ende eines sinnlosen Kampfes auf nationalem Gebiet und als »Beginn
eines friedlichen Nebeneinanders der Nationalitäten im Interesse eines produktiven
Wirtschaftslebens«.432 Dabei hatten die Deutschmährer auf ihre bisher garantierte
Mehrheit im Landtag zwar verzichtet, doch blieb ihr politischer Einfluss durch das
Zugeständnis einer fixen Mandatsverteilung gesichert.
Bis heute gilt der mährische Ausgleich als hervorragendes Beispiel des Minder-
heitenschutzes. Kritische Einwände kamen in der jüngeren Historiographie zuerst
von Gerald Stourzh, der vor allem in den Verfahren zur Feststellung »fassbarer
Merkmale« nationaler Zugehörigkeit ein Alarmzeichen im Hinblick auf unheilvolle
Entwicklungen im 20. Jahrhundert erblickt433, von Emil Brix, der im mährischen
Ausgleich einen weiteren Schritt in Richtung einer »kulturellen Desintegration« von
Deutschen und Tschechen erkennt434, von dem japanischen Historiker Toshiaki
Kyogoku bezüglich der Auswirkungen der sogenannten Lex Perek, und von der ame-
rikanischen Historikerin Tara Zahra, die den nationalen Kampf um die Kinder ins
Zentrum ihrer Dissertation rückte.435
Für die mährischen Juden bedeutete der mit der Einschreibung in einen Wahlka-
taster verbundene Zwang zu einem nationalen Bekenntnis ein fast unlösbares Prob-
lem. Kulturell und sprachlich mehrheitlich den Deutschen verbunden, doch häufig
beider Landessprachen mächtig, fühlten sie sich – etwa in ihrer Existenz als Kauf-
leute und Händler – ebenso ihren tschechischen Landsleuten verpflichtet. Machte
nun ein Bekenntnis zum Deutschtum sie den tschechischen Mährern suspekt, so
war ihre (häufige) Ambivalenz in nationalen Belangen den Deutschmährern ver-
dächtig.436 Forderungen nach Schaffung einer eigenen jüdischen Wählerkurie waren
bisher nur von der kleinen Gruppe mährischer Zionisten erhoben worden. Doch als
die Regierung im November 1905 eine Wahlreform ankündigte437 und dabei die
Möglichkeit, diese könne auf Grundlage von nationalen Kurien entstehen, andeu-
432 Alfred von Skene : Der nationale Ausgleich in Mähren 1905 (Wien 1910), S. 98.
433 Stourzh, Gleichberechtigung, S. 218.
434 Emil Brix : Mentalität ist gut – Die Teilung der Prager Universität 1882. Österreichische Osthefte,
30/3 (1988), S. 371–382, hier : S. 371.
435 Tara E. Zahra : Reclaiming Children fort the Nation : Germanization, National Ascription, and De-
mocracy in the Bohemian Lands, 1900–1945. Central European History, 37,4 (2004), S. 501–543
sowie dieselbe : Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohe-
mian Lands, 1900–1948 (Ithaca/London 2008). Vgl. dazu auch : Hannelore Burger : Der Verlust der
Mehrsprachigkeit. Aspekte des mährischen Ausgleichs, Bohemia, Bd. 34, Heft 1 (1993), S. 77–89.
436 Vgl. Sigmund Mayer : Ein jüdischer Kaufmann. 1831 bis 1911 (Leipzig 1911), S. 346f.
437 Zu den Motiven dieser Wahlreform siehe : Helmut Rumpler : Budapest – Wien – Fiume 1905.
Die Entscheidung für die österreichische Wahlreform von 1907 im Kontext der Wende der eu-
ropäischen Außenpolitik, in : Michael Svatos/Luboš Velek/Alice Velková (Hg.) : Magister Noster.
Festschrift in memoriam Prof. ph.Dr. Jan Havránek (Prag 2005), S. 493–506.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271