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Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 125
tete (was sich allerdings nicht bewahrheitete), beschloss eine eilig einberufene gesam-
tösterreichische zionistische Konferenz am 3. Dezember 1905, den Kampf um eine
jüdische Kurie für die Reichsratswahlen 1906 zum Programm zu erheben.438
Es war dies der eigentliche Eintritt der Zionisten in die österreichische Politik.
In allen Kronländern wurden nun Versammlungen zum Thema »nationale Autono-
mie und die Juden« abgehalten.439 In Mähren war es besonders die »Freie zionisti-
sche Vereinigung für Mähren und Schlesien« mit Sitz in Proßnitz/Prostějov, die für
den jüdischen Kataster warb, fürchtete sie doch, dass die Einschreibung der Juden
in einen fremdnationalen Kataster (gemeint war der deutsche) wie eine Proskrip-
tionsliste wirken und von den Tschechen zu Boykottzwecken missbraucht werden
könnte.440 Die Mehrheit der mährischen Juden lehnte einen gesonderten jüdischen
Kataster allerdings ab. Längst sei der moderne Jude nicht mehr bloß Jude, so Sig-
mund Mayer, Präsidiumsmitglied der Österreichisch-Israelitischen Union, sondern
»fühle sehr wohl auch als Tscheche, Deutscher, Italiener.« 441 Als Liberaler sah Mayer
allerdings eine ganz andere Gefahr : das in der Logik der Ausgleichsgesetzgebung lie-
gende Proporzdenken. Dieses könne, so befürchtete Mayer, dazu führen, dass Juden
eines Tages nur mehr entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil an Mittelschulen und
Universitäten partizipieren dürften, oder, dass »die Zahl der jüdischen Ärzte, Advo-
katen, Lehrer und Professoren, Bankbeamten« nach fixen Quoten festgesetzt werden
würde.442 Mayer hielt die Idee des Wahlkatasters für eine kurzlebige. Sie vertrüge
sich nicht mit den Grundsätzen der Verfassung und sei kein Heilmittel gegen Anti-
semitismus und Chauvinismus. Gegen diese Übel gäbe es nur eines : »das allgemeine,
gleiche und direkte Wahlrecht.«443 Als ein Jahr später die Sozialdemokraten 86 Ab-
geordnete in den Reichsrat entsandten – eine Zahl, mit der nicht einmal sie selbst
in ihren kühnsten Träumen gerechnet hatten – geschah dies nicht zuletzt auch mit
den Stimmen liberaler Juden, von denen viele die Sozialdemokratische Partei für die
letzte wirkliche Staatspartei hielten.
Doch die Idee des nationalen Katasters war mit der Einführung des allgemei-
nen gleichen (Männer-)Wahlrechts im Jahr 1906 keineswegs tot, war doch deren
438 Vgl. Adolf Gaisbauer : Davidstern und Doppeladler. Zionismus und jüdischer Nationalismus in
Österreich 1882–1918 (Wien/Köln/Graz 1988), S. 178.
439 Ebenda, S. 179.
440 Gaisbauer, Davidstern, S. 177.
441 Mayer, Kaufmann, S. 350.
442 Ebenda, S. 349. Eine Befürchtung, die keineswegs absurd war, wurde doch im Jahr 1914 in einem
Geheimabkommen zwischen Tschechen und Deutschen beschlossen, alle Subventionsleistungen
und Aufträge der mährischen Landesregierung nach bestimmten ethnischen Quoten zu vergeben.
Siehe dazu : Jiří Malíř, »Druhé« moravské vyrovnání z roku 1914, in : Der Mährische Ausgleich von
1905, a.a.O., S. 87–102.
443 Mayer, Kaufmann, S. 356.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271