Seite - 134 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
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134 Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik
Regelung hatte man vor allem an die große Zahl von (deutschen) Beamten, Soldaten
und Eisenbahnern in den Nachfolgestaaten gedacht, denen die Möglichkeit gegeben
werden sollte, ihren Wohnsitz in der neuen Republik zu nehmen. In der diesbezüg-
lich in der Nationalversammlung geführten Debatte stand jedoch nur ein Problem
im Vordergrund, jenes nämlich, die Einbürgerung jüdischer, vor allem aus Galizien
und der Bukowina stammender Kriegsflüchtlinge zu verhindern.
Bereits während des Krieges hatte sich eine beispiellose Hetzkampagne gegen »die
Ostjuden« entfaltet, jene rund 150 000 vor der russischen Armee geflüchteten bzw.
vom österreichischen Militär evakuierten Juden und Jüdinnen, von denen sich bei
Kriegsende noch etwa 30 000 in Wien aufhielten.476 Diente der Begriff »Ostjuden«
ursprünglich bloß einer sozialen, geographischen, kulturellen und religiösen Dif-
ferenzierung, so erhielt er spätestens jetzt seine antisemitischen Konnotationen.477
Pogrome in Galizien (im Zuge der polnisch-ukrainischen Kämpfe) spülten im Win-
ter 1918/19 neue Flüchtlingswellen nach Österreich. Als Staatsbürger waren die als
habsburgtreu stigmatisierten Juden in den Nachfolgestaaten wenig willkommen.
Nicht zuletzt im Vertrauen auf ihre vermeintlich österreichische Staatsbürgerschaft
flüchteten viele nach Wien, oft mit nicht viel mehr als ihrem Heimatschein. Dort
aber waren sie plötzlich Ausländer. Einen Flüchtlingsstatus erhielten sie nicht zuer-
kannt478, sodass mehr als 17 000 auf die Unterstützung öffentlicher und privater (vor
allem jüdischer) Hilfsorganisationen angewiesen waren.479 Führende christlichso-
ziale oder deutschnationale Politiker agitierten gegen die jüdischen »Schmarotzer«,
die für die schlechte Versorgungslage, die Wohnungsnot und sogar für die militä-
rische Niederlage verantwortlich gemacht wurden.480 Folgt man der in der Presse
ausgetragenen Polemik, drängt sich der Eindruck auf, das Schicksal der Zweimil-
476 Beatrix Hoffmann-Holter : »Abreisendmachung«. Jüdische Kriegsflüchtlinge in Wien 1914 bis
1923 (Wien/Köln/Weimar 1995), S. 145.
477 Svjatoslav Pacholkiv : Die Ostjuden als Begriff in der Geschichte, in : »Ostjuden«
– Geschichte und
Mythos. Juden in Mitteleuropa (St. Pölten 2011), S. 2–11. Siehe dazu auch : Wolff : Inventing Eas-
tern Europe, S. 29f ; Auch David Brenner weist darauf hin, dass der Begriff »Ostjude« keineswegs
immer einen negativen Klang gehabt habe, ja dass es in Deutschland während des Ersten Weltkrie-
ges geradezu zu einer Idealisierung des »Ostjuden« gekommen wäre. David A. Brenner : Marketing
Identities. The Invention of Jewish Ethnicity in Ost und West (Detroit 1998), S. 17f u.161f. Aus-
führlich behandelt den Begriff »Ostjuden« das Kapitel : »›durch Abstammung und Wahlverwandt-
schaft ein Ostjude‹. Der Fall Manès Speber« in diesem Band, S. 200–212.
478 Vgl. Walter Mentzel : Weltkriegsflüchtlinge in Cisleithanien 1914–1918, in : Asylland wider Willen,
a.a.O., S. 17–44, hier : S. 39.
479 Ausführlich dazu sowie zu den Veränderungen und Auseinandersetzungen, die sich dadurch inner-
halb der Kultusgemeinde ereigneten : David Rechter, The Jews of Vienna and the First World War
(London/Portland, Oregon 2001).
480 Eleonore Lappin : Juden in Wien. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung in Wien, in :
WIR (Wien 2000), S. 57–69, hier : S. 65.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271