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Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 147
gesetz differenzierte zwischen bloßen Staatsangehörigen und »Reichsbürgern«. Letz-
tere (die Reichsbürgerschaft) gebührte nur jenen, die »deutschen oder artverwandten
Blutes« waren, was die österreichischen Juden a priori ausschloss. Da allerdings das
»vorläufige Reichsbürgerrecht« in Österreich gar nicht eingeführt wurde, erhielten
zunächst alle vormaligen Österreicher (auch die österreichischen Juden und Jüdin-
nen) dieselbe »deutsche Staatsangehörigkeit«.522 Erst durch die materiellen Be-
stimmungen des »Blutschutzgesetzes« und die nachfolgenden Verordnungen zum
Reichsbürgergesetz523 erfolgte für die österreichischen Juden die schrittweise Frag-
mentierung und Aushöhlung ihrer Staatsbürgerschaft.524 Als »Juden« im Sinne der
Nürnberger Gesetze galten nun, entsprechend der Ersten Verordnung zum Reichs-
bürgergesetz, Personen, die entweder der jüdischen Religion angehörten oder die
mindestens drei jüdische Großeltern hatten (bzw. zwei jüdische Großeltern und mit
einem jüdischen Ehepartner verheiratet waren). »Mischlinge« ersten oder zweiten
Grades, d. h. Personen, die bloß zwei oder einen jüdischen Großelternteil hatten,
fielen nicht unter die Nürnberger Gesetze, ebenso sogenannte »Volljuden«, die mit
einem »arischen« Partner verheiratet waren.525
Viele der neuen Bestimmungen erscheinen grotesk – etwa das Verbot des Hissens
der neuen Reichsfahne für Juden –, doch waren sie weit davon entfernt, bloße Will-
kür oder Schikane zu sein. Die Nürnberger Gesetze entfalteten eine am Ende mör-
derische Logik des Blutes, mit der der Emanzipationsprozess der deutschen (und
nach dem »Anschluss« 1938 auch der österreichischen) Juden systematisch und in
Einzelschritten zurückgeführt werden sollte. So verbot das »Gesetz zum Schutze des
deutschen Blutes und der deutschen Ehre« nicht bloß Eheschließungen wie auch au-
ßereheliche Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden, sondern bestimmte ferner,
dass Juden weibliche Hausangestellte »deutschen oder artverwandten Blutes unter 45
Jahren in ihrem Haushalt nicht beschäftigen« dürften.526 Mit letzterem war
– von der
Öffentlichkeit eher unbemerkt – ein nicht unbedeutender Baustein der Judeneman-
Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien, Inhalt und Bedeutung (F.
Müller Verlag 1996), S. 129ff.
522 Vgl. Helfried Pfeifer (Hg.) : Die Ostmark. Eingliederung und Neugestaltung. Historisch-systemati-
sche Gesetzessammlung nach dem Stande vom 16. April 1941 (Wien 1941), S.
172, Anmerkung
1.
523 Zum Reichsbürgergesetz wurden dreizehn Verordnungen erlassen, mit denen die stufenweise Ent-
rechtung der Juden vorangetrieben wurde, in Österreich allerdings, durch die zeitliche Verschiebung
oder aus inhaltlichen Gründen, nur zehn. Vgl. Burger/Wendelin, Staatsbürgerschaft und Vertrei-
bung, S. 294.
524 Dieter Gosewinkel bezeichnet den Vorgang zutreffend als »Aushöhlung von innen her«. Gosewinkel,
Einbürgern und Ausschließen, S. 376.
525 § 5 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz, Gesetzblatt für Österreich 1938/150.
526 GBlÖ 1938/150 (später herabgesetzt auf 35 Jahre).
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271