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156 Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft
risch. Selbst über eine so fundamentale Frage wie jene nach dem Befehl zur »Endlö-
sung« gab und gibt es bis heute keine gesicherten Erkenntnisse. In die dritte Runde
geht nun schon jener Historikerstreit, der 1977 durch »Hitler’s War«, ein Buch des
britischen Holocaust-Leugners David Irving, ausgelöst worden war. Irving hatte da-
rin behauptet, dass es nie einen ausdrücklichen Befehl Hitlers für die »Endlösung«
gegeben habe, eventuelle Ermordungen von Juden seien gegen dessen Willen von
Himmler und Goebbels durchgeführt worden563 – eine absurde These, die jedoch
paradoxerweise befruchtende Wirkung auf die historische Forschung hatte. Auf
mehreren Konferenzen und in zahlreichen Publikationen haben seither Intentiona-
listen und Funktionalisten (jene, die der Meinung sind, dass zu einem bestimmten
Zeitpunkt die Entscheidung zum Mord an den europäischen Juden gefallen sei, und
jene, die glauben, dass eine solche Entscheidung nie getroffen wurde) polemisch sich
ausgetauscht, einander angenähert, sich wieder voneinander entfernt. Für letztere,
die Funktionalisten, waren und sind es eher strukturelle Gründe, Sachzwänge gleich-
sam, die für den Holocaust verantwortlich sind : Wechselwirkungen etwa zwischen
den verschiedenen nationalsozialistischen »Programmen« wie die Deportation der
Juden an die Peripherie des Reiches einerseits, mit der gleichzeitigen Heimholung
und versuchten Ansiedlung von Volksdeutschen andererseits.
Der vielleicht prononcierteste Vertreter der funktionalistischen Schule scheint
heute Götz Aly zu sein, der, so wie vor ihm Martin Broszat, davon überzeugt ist,
dass das Programm der Judenvernichtung bis zum Frühjahr 1942 aus Einzelaktionen
heraus allmählich sich entwickelt habe und erst nach der Errichtung der Vernich-
tungslager bestimmenden Charakter erhielt. Nach Aly gibt es nicht den einen Be-
fehl Hitlers zum Massenmord ; es gäbe nur die falsche Annahme späterer Analytiker,
die ungeheuerliche Tat müsse in einer völlig außergewöhnlichen Form beschlossen
worden sein.564 Aly spricht von einer »vielfachen Aufforderung an alle Beteiligten«.
Danach sei die »Endlösung« gleichsam »Teamwork« gewesen, ermöglicht nicht zu-
letzt durch den »Abbau von Hierarchien und bürokratischen Fesseln«.565 Hitler er-
scheint bei Aly nicht als »der unerbittliche Befehlshaber«, sondern als ein Politiker,
der seinen Leuten freie Hand ließ, sie ermunterte, Phantasie zu entwickeln, um das
563 In einer zweiten, 1991 erschienenen Auflage wird der Holocaust dann mit keiner Zeile mehr er-
wähnt. Vergleiche dazu die detaillierte Schilderung des Irving-Prozesses in : Eva Menasse : Der Ho-
locaust vor Gericht. Der Prozess um David Irving (Berlin 2000), S. 28.
564 Gemeint ist Eberhart Jäckel. Vgl. Götz Aly : »Judenumsiedlung«. Überlegungen zur politischen
Vorgeschichte des Holocaust, in : Ulrich Herbert (Hg.) : Nationalsozialistische Vernichtungspolitik
1939–1945. Neue Forschungen und Kontroversen (Frankfurt a. M. o.J.), S. 67–97, hier : S. 94 u.
68.
565 Interview mit Götz Aly über NS-Vergangenheit und Holocaust in der Mitteldeutschen Zeitung
vom 9. September 2002.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271