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158 Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft
versuchte, durch penibles Zusammenführen und Abgleichen neuester Quellen : Tele-
fonnotizen, Besprechungszettel, Terminkalender, Tagebücher usw., Fundstücke aus
bis in die 1990er-Jahre nicht zugänglichen Archiven, endlich doch einen Beweis
für den Befehl Hitlers zur »Endlösung« zu liefern. Sie bewegten sich dabei in einem
Zeitraum Frühjahr bis Herbst 1941, wobei sich der Herbst 1941 als Schlüsselzeit he-
rauszukristallisieren scheint, als Übergangsphase zwischen den noch unbestimmten
Plänen der Vertreibung und Dezimierung, durch Umsiedlung (etwa nach Mada-
gaskar), durch Treiben in die weißrussischen Sümpfe, durch Hunger und Kälte bis
zu immer konkreter werdenden Vernichtungsplänen. Im Allgemeinen wird dabei
vermieden, ein exaktes Datum anzugeben, mit Ausnahme von Christian Gerlach,
der den 12. Dezember 1941 als vermutetes Datum für einen Befehl Hitlers zur Er-
mordung der europäischen Juden nennt. Die Tatsache, dass ein Befehl Hitlers bisher
nicht gefunden wurde, dürfe, so Gerlach, nicht zu der Annahme verleiten, eine sol-
che Entscheidung habe es nie gegeben.572
Gerlachs Chronologie und Beweisführung haben etwas durchaus Überzeugendes :
Am 7. Dezember war der Angriff der Japaner auf Pearl Harbour erfolgt. Am 11. De-
zember erklärte Hitler den USA den Krieg, so wie umgekehrt Präsident Roosevelt
dem Deutschen Reich den Krieg erklärte. Damit aber war der Krieg zum Weltkrieg,
aus einem geplanten »Blitzkrieg« war ein Zweifrontenkrieg mit allen führenden
Weltmächten geworden. Schuld daran aber war, nach nationalsozialistischer Logik,
nur eines : die »jüdische Weltverschwörung«. Bereits am nächsten Tag, dem 12. De-
zember, vermutet Gerlach
– gestützt auf die oben erwähnte Eintragung in Himmlers
Dienstkalender – habe Hitler seine Entscheidung, die Juden (und zwar nun auch
die »Reichsjuden«, d. h. die deutschen und die ehemaligen österreichischen und
tschechischen Juden) zu vernichten, im innersten Kreis bekannt gegeben. Als zweite
Quelle führt Gerlach eine Tagebucheintragung Joseph Goebbels’ an, wonach Hitler
in einer langen Ansprache am Abend des 12. Dezember vor den Spitzen der Partei
auf seine berüchtigte Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 zurückgekommen sei :
»Bezüglich der Judenfrage«, schreibt Goebbels, sei »der Führer entschlossen, reinen
Tisch zu machen. Er hat den Juden prophezeit, dass, wenn sie noch einmal einen
Weltkrieg herbeiführen würden, sie dabei ihre Vernichtung erleben würden. Dies ist
572 Christian Gerlach : Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politi-
sche Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden, in : Krieg, Ernährung, Völkermord.
Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg (Zürich 2001), S. 79–152, hier : S. 147. Her-
mann Graml ist davon überzeugt, dass ein Befehl Hitlers »unverzichtbar« gewesen sei. Hermann
Graml : Die Durchführung der »Endlösung«, in : Rolf Steininger (Hg.) : Der Umgang mit dem
Holocaust (Wien/Köln/Weimar 1994), S. 31–44, hier : S. 39. Auch Peter Longerich spricht von
einer ausdrücklichen Autorisierung der »Endlösung« durch Hitler. Siehe : Peter Longerich : Der
ungeschriebene Befehl. Hitler und der Weg zur ›Endlösung‹ (München 2001), S. 144f.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271