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160 Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft
»Befehl«. Vorsichtig spricht er von einer »Grundsatzentscheidung« Hitlers.578 An-
dere nennen es »Durchführungs-Entscheidung« oder sprechen von einem Ent-
scheidungsprozess. Das Wort »Befehl« taucht in aller Deutlichkeit nur bei Hannah
Arendt auf.579 Der Mangel eines schriftlichen Dokuments bereitet ihr keine Ver-
legenheit. Sie geht vor allem sprachanalytisch vor, weist auf die Tarnsprache der
Nazis hin, in welcher »Verlegung des Wohnsitzes« oder »Umsiedlung« die Deporta-
tion bedeutet und »Sonderbehandlung« oder »radikale Lösung« Mord. Die »End-
lösung« – ein Euphemismus für Mord – war und blieb bis zuletzt »Geheimsache«,
auch dann noch, als alle Parteistellen, Staatsämter, Eisenbahner usw. informiert
waren. Diejenigen, die vom »Führerbefehl« ausdrücklich unterrichtet waren, avan-
cierten zu »Geheimnisträgern«.580 Himmler selbst gab die Devise aus, dass über
die »Endlösung der Judenfrage« öffentlich nie gesprochen werden dürfe, diese sei
vielmehr »ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Kapitel unserer
Geschichte«.581
Ein Geheimnis aber ist etwas, womit Historiker schon aus methodischen Grün-
den nur schwer umgehen können. Schweigen ist keine historische Kategorie.582
Doch auch die Sprache des Nationalsozialismus ist uns in Wahrheit kaum mehr ver-
ständlich. Zwar können wir – dank Wilhelm Klemperers Sammlung nazistischen
Sprachgebrauchs
– einzelne Vokabeln der »LTI«, der Lingua Tertii Imperii, entschlüs-
seln583, doch die Dichte des ideologischen Kontextes : Erlösungsglaube, Führerkult,
Gefolgschaft, der alles durchdringende Biologismus, Rassismus und Antisemitismus
ist Nachgeborenen kaum mehr nachvollziehbar. Geheimnisse haben in Demokratien
nichts verloren. Gibt es sie doch, bleiben sie es – bei funktionierenden Medien und
parlamentarischer Kontrolle – im Allgemeinen nicht lange. Nach Elias Canetti be-
ruht nun die Macht eines Diktators zu einem Gutteil darauf, dass man ihm die Kraft
des Geheimnisses zubilligt. Beratungen spielten sich in ganz kleinen Gruppen ab,
die auf Geheimhaltung hin gebildet werden. Auf Verrat stünden die aller schwersten
Sanktionen. Der Beschluss liege bei einem Einzelnen. Dieser kenne ihn selbst nicht,
578 Gerlach, Wannseekonferenz, S. 119.
579 Hannah Arendt : Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (München/Zürich
1999), S. 168f.
580 Arendt, Eichmann, S. 170. Siehe dazu : Raul Hilberg : Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln
und Interpretieren (Frankfurt a. M. 2002), S. 131ff.
581 Zit. nach : Aly, »Endlösung«, S. 394. Was nicht bedeutet, dass in der Öffentlichkeit gar keine
Informationen über das Geschehen vorhanden waren. Peter Longerich bezeichnet dann auch die
»Endlösung« als ein »öffentliches Geheimnis«. Siehe : Peter Longerich, »Davon haben wir nichts
gewusst !« Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945. München 2006, S. 201.
582 Vgl. dazu Lyotards Auseinandersetzung mit dem sogenannten »Faurisson-Argument«, in : Jean-
François Lyotard : Der Widerstreit (München 1987), S. 35ff.
583 Wilhelm Klemperer : LTI. Notizbuch eines Philologen [Berlin 1947] (Stuttgart 2010).
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271