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162 Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft
mit dem Tode Bedrohte lebt und sich erinnert
–, Gefahr, in der man wäre, wenn die
vielen mit dem Tode Bedrohten sich gegen einen zusammenschließen würden (…)
dieses quälende, unversiegliche und unbegrenzte Gefühl von Gefahr bezeichne ich
als Befehlsangst.« Sie sei am größten, sagt Canetti, bei »dem, der zuhöchst steht. An
der Quelle des Befehls, in dem, der die Befehle aus sich heraus erteilt, der sie von
niemand empfängt, der sie sozusagen selbst erzeugt, da ist die Konzentration von
Befehlsangst die größte.«590 Wäre hier eine Begründung zu finden, warum Hitler
am Ende alle Juden töten wollte, warum niemand überleben sollte, warum es keine
Gnade – nach Canetti der höchste und konzentrierteste Akt der Macht – gab, auch
nicht für die reichsdeutschen Juden, die eigenen Staatsbürger, deren Tod er – nach
Einsicht von Gerlach und anderen – erst entschieden hat, als der Weltkrieg begann
und die siegreiche Phase des Krieges im Osten zu Ende ging ?
Was in den Analysen der Historiker, die sich in den letzten Jahren vor allem auf
das Geschehen im Osten konzentrierten (auf die gigantischen Bevölkerungsverschie-
bungen und -vertreibungen, auf die verbrecherischen Planungen in Zusammenhang
mit dem »Generalplan Ost«591), zu kurz zu kommen scheint, ist der Prozess der
geplanten und systematischen Entrechtung der Juden, der knapp nach Beginn der
NS-Herrschaft einsetzte, jene durch einzelne Rechtsakte betriebene stete Verwand-
lung, die auf Depersonalisierung zielte, solange, bis Juden nur mehr als »Ungeziefer«
erschienen, das man straflos vernichten durfte.592 »Die Juden sind die Läuse der zi-
vilisierten Menschheit. Man muss sie irgendwie ausrotten«, schrieb Joseph Goebbels
am 2. November 1941 in sein Tagebuch.593 Bald darauf schritt man zur Tat. Dass
die Juden »weg müssen«, darin war man sich jetzt einig, doch ob »bloß« die »Ost-
juden« in den besetzten Gebieten, die man während des Kriegsgeschehens gefahrlos
umbringen konnte, oder tatsächlich alle Juden, auch die eigenen Staatsbürger, alle,
bis zum letzten Greis, bis zum letzten Kind, diese Frage scheint im Spätherbst 1941
noch offen gewesen zu sein594, ebenso die Frage, wer als Jude gelten sollte. Hitler
hat bis zuletzt an der mit den Nürnberger Gesetzen getroffenen Definition festge-
halten, ebenso an den dort beschlossenen Ausnahmeregelungen (für mit »arischen«
590 Canetti, Masse und Macht, Bd. 2, S. 36.
591 Dazu : Hannelore Burger : Der Generalplan Ost und die ›Bereinigung der Slowenenfrage‹, in : Va-
lentin Oman/Karl Vouk (Hg.) : DenkMal : Deportration 1942–2012, Katalog (Celovec/Klagenfurt
2012), S. 13–20.
592 Vgl. Elias Canetti : Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942–1972 (Frankfurt a. M.
1991), S. 81.
593 Zit. nach : : Aly, »Endlösung«, S. 374.
594 Noch sei das Konzept, sagt Timothy Snyder, nicht klar umrissen gewesen, die Maschinerie nicht
installiert, aber bestimmte Umrisse von Hitlers letzter Version der Endlösung seien bereits sicht-
bar gewesen. Timothy Snyder : Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin (München 2011),
S. 220.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271