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174 Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik
kleine Fabrik für Nahrungsmittelerzeugung im dritten Wiener Gemeindebezirk. Mit
drei Angestellten erzeugte er nach eigenen Rezepturen Pflanzenfette, Suppenwürfel,
Backpulver und Brauselimonade. Drei eingetragene Handelsmarken, darunter das
Backpulver »Vindobona«, führten zu steigendem Wohlstand der kleinen Familie.
1931 übersiedelten die Falkenfliks mit ihrer damals vierjährigen Tochter Cwetka in
die Pfefferhofgasse nahe der Wiener Urania. 1936 wurde eine zweite Tochter, Mar-
tha, geboren. Cwetka, die ältere der Schwestern erinnert sich an ein Kinderzimmer
mit weißen Schleiflackmöbeln, an den großen grünen Kachelofen, an sonntägliche
Ausflüge auf den Kahlenberg, an ihre Volksschule, in der sie das Lied vom lieben
Augustin lernte, an Abenteuer auf dem Eislaufplatz, an Klavierstunden und Unter-
richt in »rhythmischen Ballett«, kurz : an eine behütete Kindheit in einer liebevollen
Familie in großzügigen, bürgerlichen Lebensverhältnissen. Nur durch ihre Religion
unterschied sich ihr Leben von dem der anderen : Man hielt die jüdischen Feiertage,
lebte koscher, der Vater besuchte die Synagoge, die Mutter betete mit den Kindern.
Den »Anschluss« im März 1938 erlebten die Schwestern noch nicht als einschnei-
dendes Ereignis. Als staatenlose Juden
– ein Status, der den Kindern jedoch nicht be-
wusst war
– waren die Falkenfliks, wie auch alle ausländischen Juden, zunächst nicht
von den »Arisierungen« betroffen. Cwetka erinnert sich nur, dass sie eine andere jü-
dische Familie, die ihre Wohnung bereits verloren hatte, bei sich aufnehmen mussten.
Eine Weile noch besuchte sie das Gymnasium in der Novarragasse. Die Erzeugnisse
der väterlichen Fabrik wurden über einen »arischen« Partner vertrieben. Sorgfältig be-
mühten sich die Eltern, ihre Kinder vor den täglichen Übergriffen und Grausamkei-
ten, die der Alltag für die Juden seit dem »Anschluss« bereithielt, zu schützen. Dass
Abb. 17 : Leon Falkenflik, September 1939 ; Quelle :
Privatarchiv Martha Raviv
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271