Seite - 175 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
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Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 175
der Vater längst die Flucht der Familie vorbereitete, verzweifelt Möglichkeiten einer
Emigration erkundete, war den Kindern nicht bewusst. Martha, damals zwei Jahre alt,
erinnert sich daran, gern auf der Küchenbank am offenen Fenster gesessen und der
Musik aus dem gegenüber gelegenen Restaurant gelauscht zu haben. Noch eine Zeit
lang gab es für die Schwestern so etwas wie »Normalität« im Alltag.
Das änderte sich abrupt, als am 11. September 1939
– also unmittelbar nach dem
Überfall des Deutschen Reiches auf Polen – der Vater im Zuge einer von Reinhard
Heydrich, damals Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD), be-
fohlenen reichsweiten Aktion gegen die staatenlosen Juden629, zusammen mit etwa
tausend weiteren »polnischen Juden«, d. h. zumeist aus Galizien stammenden in
Österreich ansässigen Juden ohne Staatsbürgerschaft oder mit ehemals polnischer
Staatsbürgerschaft, in einer äußerst brutalen Polizeiaktion verhaftet und – nach
einer Odyssee durch die überfüllten Wiener Gefängnisse – für etwa drei Wochen
im Wiener Praterstadion interniert wurde. Dabei wurde Leon Falkenflik, zusam-
men mit 440 weiteren ausgewählten Gefangenen, zum Objekt einer großangelegten
rassenbiologisch-anthropologischen Untersuchung.630 Die Gefangenen wurden fo-
tografiert und vermessen, ihre biographischen und biometrischen Daten erhoben,
es wurden Haarproben gesammelt, von den Gesichtern einiger Gefangener Gips-
masken genommen. Sinn dieser Aktion war es, Material über »polnische Juden« zu
sammeln, um so anthropologische Aufschlüsse zum vom Nationalsozialismus postu-
lierten Typus des »Ostjuden« zu gewinnen. Das Naturhistorische Museum hatte sich
bereits im Mai 1939 mit einer großen Sonderausstellung über »Das körperliche und
seelische Erscheinungsbild der Juden« zu einem zentralen ideologischen Thema des
Nationalsozialismus hervorgetan. Dr. Joseph Wastl, der Kurator dieser Schau, ergriff
die Gelegenheit, weiteres »schönes Material über polnische Juden« zu sammeln.631
Man arbeitete unter großem Zeitdruck. Schon bald sollte das Stadion wieder zu
Sportzwecken genutzt werden. In weniger als einer Woche waren über 715 Fotos in-
ventarisiert632, Zehntausende von Einzeldaten in Messblätter eingetragen, siebzehn
Gipsmasken angefertigt worden.633 Der damals 17-jährige Gershon Evan beschreibt
629 Zu den Hintergründen der Aktion vgl.: Yfaat Weiss : Deutsche und polnische Juden vor dem Ho-
locaust. Jüdische Identität zwischen Staatsbürerschaft und Ethnizität 1933–1940 (München 2000),
S. 194ff und S. 212.
630 Als einer der wenigen Überlebenden der Aktion berichtet Gershom Evan über die Wochen im Pra-
ter. Gershom Evan : Winds of Life. The Destinies of a Young Viennese Jew 1938–1958 (Riverside,
Calif. 2000), S. 94.
631 Zur Karriere Joseph Wastls im »Dritten Reich« siehe auch : Ernst Klee : Deutsche Mediziner im
Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945 (Frankfurt/Main, 2. Auflage 2001), S. 138.
632 Siehe : Volkhard Knigge/Jürgen Seifert (Hg.). Katalog zur Ausstellung : Vom Antlitz zur Maske.
Weimar – Buchenwald 1939 (Weimar 1999), Eintrag unter Buchstabe F.
633 Claudia Spring : Vermessen, deklassiert und deportiert. Dokumentation zur anthropologischen
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271