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184 Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik
Nach der für sie so überraschenden Ablehnung ihres Antrages durch die öster-
reichischen Behörden bemühte sich Martha Raviv, weitere Beweismittel für ihre ös-
terreichische Staatsbürgerschaft vorzulegen. Doch alle ihre Belege und Argumente –
unter anderem eine Bescheinigung der deutschen Wiedergutmachungsbehörde,
nach der der Vater »als Österreicher durch die Vereinigung Österreichs mit dem
Deutschen Reich die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hatte« – erwiesen sich
als ungeeignet. Das österreichische Staatsbürgerschaftsrecht stellt ausschließlich auf
die »Abstammung« (ius sanguinis) ab. Für die österreichischen Behörden zählte des-
halb einzig die Meldebestätigung (Auszug aus der »Heimatrolle«) des Vaters, und
diese bewies allein ein Heimatrecht in Tłuste, im Bezirk Zaleszczki (Polen) – eine
Stadt, von der Martha Raviv noch nie in ihrem Leben gehört und die ihr Vater
schon in früher Jugend verlassen hatte. Ein zehnjähriger Aufenthalt des Vaters in
Wien vor 1938 – der ersatzweise zur Inanspruchnahme bestimmter Leistungen aus
dem Titel der Opferfürsorge führen hätte können – war auch nicht nachweisbar,
da die Meldebestätigung das Jahr 1931 als erstes Aufenthaltsjahr in Wien auswies,
und so kam es neuerlich zu einer Abweisung ihres Antrags.646 Doch Martha Raviv
gab nicht auf. In ihrem Einspruch argumentierte die Anwältin schließlich mit dem
Naturrecht. Und sie machte die Behörde auf die Möglichkeit von Ausnahmen auf-
merksam. Sie, die als Minderjährige bis Herbst 1943 – als Wien bereits »judenrein«
gewesen war – hier unter unmenschlichen Bedingungen gelebt habe, sei ein solcher
Fall.647 Doch eine Ausnahme wurde nicht gewährt.
Die dritte Abweisung ihres Ansuchens erfolgte im November 1997 durch die
Wiener Landesregierung. Zwar unterliege es keinem Zweifel, wurde bedauernd mit-
geteilt, dass sie dem Kreis jener Menschen angehöre, »die in der Zeit des National-
sozialismus schwere Verfolgung erlitten« hätten, da sie jedoch Österreich im Jahr
1943 nicht als Staatsbürgerin verlassen habe, läge eine der Voraussetzungen für einen
Wiedererwerb durch Anzeige gemäß § 58c des Staatsbürgerschaftsgesetzes hinsicht-
lich ihrer Person nicht vor. Ein anderer Erwerb der Staatsbürgerschaft komme nur
auf dem »Verleihungsweg« in Betracht, und dieser setze einen zehnjährigen konti-
nuierlichen Hauptwohnsitz im Gebiet der Republik Österreich voraus.648 Martha
Raviv – als Anwältin mit schwierigen und langwierigen Verfahren vertraut – war
tief enttäuscht. Sie hatte den Aussagen Bundeskanzler Franz Vranitzkys anlässlich
seines Staatsbesuchs 1993, mit der Rückgabe der Staatsbürgerschaft eine Geste der
646 Schreiben des Amts der Wiener Landesregierung, MA 61 IV
– R 361/95 F vom 12. Juni 1996, im
Akt.
647 Schreiben M.R. an Botschaftssekretär Dr. Ulf Hausbrandt, beim Wiener Magistrat eingelangt am
26. November 1996, im Akt.
648 Schreiben des Amts der Wiener Landesregierung, MA 61 IV
– R 361/95 F vom 3. November 1997,
im Akt, meine Hervorhebung.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271