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Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 185
Anerkennung gegenüber den Opfern setzen zu wollen, vertraut. Nach wie vor sieht
sie Österreich als Heimat an, ist Österreich Teil ihrer Identität.
Bewegung in ihren Fall kam erst wieder ein Jahr später. Inzwischen war das öster-
reichische Staatsbürgerschaftsgesetz neuerlich novelliert worden. Entsprechend § 10
der Novelle sollte nun »Altösterreichern«, die bei ihrer Flucht aus Österreich nicht
im Besitz der österreichischen Bundesbürgerschaft gewesen waren, die Möglichkeit
gegeben werden, die österreichische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Unmittelbar
nach Inkrafttreten der Novelle am 1. Januar 1999 stellte Martha Raviv neuerlich
ein Ansuchen um Erhalt der österreichischen Staatsbürgerschaft. In ihrem Begleit-
schreiben an den österreichischen Botschafter in Israel schrieb sie, dass sie bei einer
Feier im November 1998 aus Anlass des Gedenkens an die »Kristallnacht« (die Pog-
romnacht des 9. November 1938) »mit zitternden Knien, erregt und gerührt« neben
der Kerze im Ohel yizkor, der Gedenkstätte Yad Vashem, gestanden habe. Die Kranz-
niederlegung (durch den damaligen Botschafter Wolfgang Paul) sei für sie Symbol
und Zeichen gewesen, dass es einen neuen österreichischen Staat gebe, der sich von
jenem Österreich, das geschwiegen und seine Involviertheit in den Holocaust ge-
leugnet habe, unterscheide.649
Doch auch dieses Verfahren gestaltete sich schwierig. Sie reiste nach Wien und
legte im persönlichen Gespräch mit dem zuständigen Beamten neue Beweismittel
vor650, darunter ein Journalblatt des k. u. k. Kriegsspitals in Wien Grinzing, aus dem
hervorging, dass ihr Vater dort im Dezember 1917 acht Tage in Behandlung war,
was seinen Status als »Altösterreicher« (im Sinne des neuen Gesetzes) beweise.651 Da
jedoch die Einbürgerung nach der Staatsbürgerschaftsgesetznovelle von 1998 Ermes-
senssache ist und somit kein Rechtsanspruch besteht, war es notwendig, die Stel-
lungnahme des Innenministeriums einzuholen. In diesem herrschte jedoch
– wie der
Landesbehörde aus anderen Verfahren bekannt war – die Rechtsmeinung vor, dass
Polen nicht zu den Nachfolgestaaten der ehemaligen österreichisch-ungarischen Mo-
narchie zu zählen sei.652 Die Wiener Landesregierung, die die Brisanz dieser Rechts-
auslegung durchaus erkannte – war sie doch vor allem mit Anträgen von jüdischen
Vertriebenen, die aus dem ehemaligen Galizien (Polen) oder der Bukowina (nach
649 Neuerliches Ansuchen um Erhalt der österreichischen Staatsbürgerschaft durch Martha Raviv an
die Österreichische Botschaft in Tel Aviv, in Übersetzung eingelangt in der Wiener Landesregie-
rung am 19. Januar 1999, im Akt.
650 Niederschrift über die Amtshandlung vom 9.2.1999, im Akt.
651 »Vormerkblatt des k. u. k. Kriegsspitals, Wien XIX, Grinzing, betr. Leon Falkenflik« (Falkenflück
geschrieben) vom 11.12.1917, im Akt.
652 Schreiben des Bundesministeriums für Inneres an das Amt der Wiener Landesregierung, MA 61 Zl.
66 020/20-III/12/99 v. 14. Januar 1999, in dem mitgeteilt wurde, dass in dieser Frage eine weitere
gutachterliche Stellungnahme des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien angefordert
wurde.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271