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Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Seite - 192 -
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Seite - 192 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart

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192 Staatenlosigkeit als Massenschicksal mals von mir wusste«.672 Canetti erklärte seine Betroffenheit durch die noch immer nicht verwundene Trennung von Zürich, dem unbeschwertesten Teil seiner Jugend. Doch Veza verstand die tiefere Bedeutung dieses »leider nicht« sofort. Für sie war die Frage keinesfalls Teil einer belanglosen Konversation. Sie bekannte, dass sie selbst gern Engländerin gewesen wäre. Der Dritte im Bund, ein österreichischer Freund, entgegnete verständnislos, man könne doch Shakespeare lieben, ohne darum »gleich Engländer zu sein«. »Alles Preziöse«, beschrieb Canetti die Szene, »war verschwun- den, auch die Koketterie (…) Sie sprach von etwas, das ihr nah und wichtig war und setzte es ein gegen mein Wichtiges, das sie so rasch und leicht und doch gar nicht verletzend berührt hatte«.673 Was war dieses »Wichtige«, das beide für immer verbinden sollte ? Es bestand in einem sehr nüchternen Problem, das in der Zeit der nun dominierenden National- staaten eine nie gekannte Bedeutung erlangt hatte : ihr prekärer staatsbürgerlicher Status, die mangelnde Zugehörigkeit zu einer Nation. Veza Calderon war 1897 in Wien geboren worden, doch sie war keine Österreicherin, sondern besaß nach ihrer Mutter, Rachel Calderon, deren Familie zuletzt in Sarajevo ansässig gewesen war, einen jugoslawischen Pass. Elias Canetti, der die türkische Staatsangehörigkeit be- sessen hatte, war mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches staatenlos geworden.674 Ein genaues Datum dafür gibt es nicht. Staatenlos wird eine Person entweder durch Ausbürgerung (Expatriation) oder durch Untergang eines Staates (Dismembration). Staatenlosigkeit ist ein völkerrechtlicher Status, der allerdings erst festgestellt wer- den muss (etwa, um einen Fremdenpass zu erlangen). Bis dahin gilt eine Person als »undefined subject« (nationalité indéterminée). Und genau das dürfte der Status Elias Canettis gewesen sein, als er die sieben Jahre ältere Veza am 29. Februar 1934 in Wien nach jüdisch-sephardischem Ritus heiratete, zu einem Zeitpunkt, als ihre Liebesbeziehung  – nach Bekunden Canettis  – bereits erloschen war. Diese gegen den Rat des Bruders erfolgte und vor der Mutter verheimlichte Eheschließung hatte 672 Elias Canetti : Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921–1931 (München 1980), S.  86. 673 Canetti, Fackel, S.  86. 674 Eine Institutionalisierung der Staatsbürgerschaft war im Osmanischen Reich erst in der Phase sei- ner sogenannten »Neuordnung« (tanzimat) im Jahr 1839 erfolgt, als  – nicht zuletzt aufgrund des Drucks ausländischer Mächte  – aus »tebaa« (Untertanen) Staatsangehörige mit Recht auf Leben, Eigentum und (allerdings erst nach der Verfassung von 1876) auch politischer Repräsentation wurden ; darüber hinaus wurde die Rechtsgleichheit von Christen und Juden mit den Muslimen garantiert. Vgl. Günter Seufert : Die Türkei, der Libanon und Israel. Staatsbürgerschaft bei den drei ›europäischen‹ Erben des Osmanischen Reiches im muslimischen Vorderen Orient, in : Christoph Conrad/Jürgen Kocka (Hg.) : Staatsbürgerschaft in Europa. Historische Erfahrungen und aktuelle Debatten (Hamburg 2001), S.  216–239 sowie auch : Uri Davis : Democratization, Citizenship, Arab Unity and Palestinian Autonomy, in : N.A. Butenschon et al. (Hg.) : Citizenship and the Middle East (Syrakus 2000), S.  225–245.
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Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Titel
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Untertitel
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Autor
Hannelore Burger
Ort
Wien
Datum
2014
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-205-79495-0
Abmessungen
15.5 x 23.5 cm
Seiten
292
Schlagwörter
Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
Kategorien
Geschichte Historische Aufzeichnungen

Inhaltsverzeichnis

  1. Einführung 9
  2. Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
  3. Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
  4. Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
  5. Die josephinische Zäsur 26
  6. Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
  7. Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
  8. Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
  9. Die Vertretung der Tolerierten 39
  10. Das Judenamt 40
  11. Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
  12. Taufen und Nobilitierungen 47
  13. Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
  14. Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
  15. und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
  16. Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
  17. Juden als österreichische Reichsbürger 62
  18. Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
  19. Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
  20. Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
  21. Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
  22. Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
  23. Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
  24. Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
  25. Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
  26. Paradoxe Fremde 85
  27. Die dualistische Verschärfung 86
  28. Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
  29. Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
  30. Heimatrecht und soziale Frage 91
  31. Der Fall Dr. Hugo Stark 92
  32. Der Fall Julia Singer 93
  33. Der Fall Lea Weitzmann 95
  34. »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
  35. Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
  36. Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
  37. Kafkas Sprachen 100
  38. Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
  39. Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
  40. Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
  41. Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
  42. Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
  43. Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
  44. Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
  45. Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
  46. Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
  47. Juden im Ersten Weltkrieg 130
  48. Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
  49. Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
  50. Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
  51. Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
  52. Signaturen der Vertreibung 152
  53. Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
  54. Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
  55. Der Fall Raviv 172
  56. Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
  57. Der Fall Elias Canetti 188
  58. Der Fall Manès Sperber 200
  59. Semantische Nachbemerkungen 213
  60. Verzeichnis der Archive 222
  61. Literaturverzeichnis 223
  62. Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
  63. Zeittafel 245
  64. Register 264
  65. Personen 264
  66. Orte 269
  67. Sachen 271
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