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194 Staatenlosigkeit als Massenschicksal
erst wieder hatte beitreten müssen).677 Sie hätten dann ein wenig »spaniolisches
Theater gespielt« und darüber einen Trauschein erhalten, der sie beide als staatenlos
auswies. Für sich selbst sah Canetti darin allerdings auch einen Vorteil, da seine Staa-
tenlosigkeit früher »eine sehr heikle Sache gewesen« sei und jedes weitere amtliche
Dokument darüber ihm später leichter zu einer neuen Staatsbürgerschaft verhelfen
könne. Niemand, so trug er seinem Bruder auf, dürfe von den wahren Gründen der
Hochzeit erfahren.678
Tatsächlich weist das Stammblatt der Wiener Heimatrolle Elias Canetti als »staa-
tenlos« aus. Da dieses erst am 15. Februar 1936 (zwei Jahre nach seiner Heirat) an-
gelegt wurde679, stellt sich die Frage, ob Canetti zu jener Zeit versucht hat, die öster-
reichische Staatsbürgerschaft zu erlangen ? Theoretisch wäre dies möglich gewesen,
war doch im Jahr 1925 eine Reform erfolgt, wonach die Erwerbung der Landes- und
Bundesbürgerschaft schon nach vierjährigem ununterbrochenen Wohnsitz möglich
sein sollte (vorher 10 Jahre), allerdings erst dann, wenn dem Bewerber zuvor die
Aufnahme in den Heimatverbrand einer Gemeinde zugesagt worden war. Hätte ein
solches Ansuchen – gesetzt Canetti hätte sich darum bemüht – Aussicht auf Erfolg
gehabt ? Die staatsbürgerlichen Rechte der Juden waren
– trotz weitverbreitetem An-
tisemitismus – in der sogenannten »Maiverfassung« des autoritären Ständestaates
unangetastet geblieben. Nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland waren
Tausende Flüchtlinge nach Österreich geströmt, darunter zahlreiche Prominente jü-
discher Abstammung, u. a.: Theodor Adorno, Ernst Bloch, Max Reinhardt, Bruno
Walter, Franz Mehring oder Alfred Polgar. Einige waren im Staatsgebiet der Mon-
archie geboren oder mit Österreicherinnen verheiratet. Gar nicht wenige wurden
von der Regierung Schuschnigg eingebürgert.680 Grundsätzlich wäre es also auch
für Elias Canetti, der sich nun bereits seit zwölf Jahren in Österreich aufhielt, mög-
lich gewesen, die österreichische Landes- und Bundesbürgerschaft zu erlangen. Ir-
gendeinen Rechtsanspruch konnte er – da er nicht im Staatsgebiet der Monarchie
geboren war und somit nirgendwo ein Heimatrecht besaß
– allerdings nicht geltend
machend. Ebenso wenig konnte er gesicherte Lebensverhältnisse nachweisen, die
wiederum Bedingung für den Erwerb des Heimatrechtes in Wien waren. Dass Ca-
netti jedoch überhaupt die Möglichkeit einer Naturalisation durch den autoritären
677 Zu den Besonderheiten des jüdischen Eherechts und dem Heiratsverhalten von Juden nach dem
Ersten Weltkrieg vgl. Marsha L Rozenblit : Jewish Courtship and Marriage in 1920s Vienna, in :
Marion A. Kaplan/Deborah Dash Moore (Hg.) : Gender and Jewish History (Bloomington, Indi-
ana 2011), S. 88–103.
678 Brief E.C. an seinen Bruder George v. 10.2.1934 zit. nach Hanuschek. S. 265f.
679 GrundStammblatt Nr. 1230258 v. 15.2.1936, lf. Nr. im Ausländerregister 62431, Magistratsabtei-
lung 61, Wien, Heimatrolle. Vgl. Burger/Wendelin, Vertreibung und Staatsbürgerschaft, S. 323.
680 Ebenda, S. 277.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271