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Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Seite - 196 -
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Seite - 196 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart

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196 Staatenlosigkeit als Massenschicksal Alle Berichte über die nationalsozialistische Epoche stammen von Veza. Elias Ca- netti schweigt darüber. Der dritte und letzte Teil seiner Biographie bricht mit Juni 1937 abrupt ab, endend mit dem Tod der Mutter. Seine Aufzeichnungen setzten erst wieder 1942 mit der »Provinz des Menschen« ein. Auffallend ist seine veränderte Haltung gegenüber dem Judentum. Sind die 1920er- und 1930er-Jahre  – wohl auch unter dem Einfluss Karl Kraus’  – geprägt von einer Distanz zum Judentum (wiewohl Canetti im Gegensatz zu Kraus die Kultusgemeinde nie verlassen hat), geprägt vor allem auch vom Internationalismus der Arbeiterbewegung, so findet sich am Beginn der Aufzeichnungen des Jahres 1944 die berühmte Passage über die »größte geistige Versuchung« seines Lebens, die Versuchung, »ganz Jude zu sein«. Doch am Ende weist er diese Option zurück. Der Vernichtungsfeldzug gegen die Juden habe viele seiner Freunde veranlasst, sich »aus den Lockungen der vielen Völker« loszureißen, um am Ende »blind wieder zu Juden« zu werden. Die Toten aber sieht Canetti »auf allen Seiten«. Und er fragt : »Soll ich mich den Russen verschließen, weil es Juden gibt, den Chinesen, weil sie ferne, den Deutschen, weil sie vom Teufel besessen sind ? Kann ich nicht weiterhin allen gehören, wie bisher, und doch Jude sein ?«687 Sein Dazwischen-Sein verbietet ihm sich auf eine Seite zu schlagen. Einerseits froh über die Bomben der Alliierten, ist er zugleich entsetzt über die Zerstörung der deutschen Städte  – seiner Städte. Es gelingt ihm nicht zu hassen. Weil er auch der Andere, auch der Feind ist ? Die rätselhafteste Eintragung findet sich Anfang 1945 : »Wenn das Frühjahr kommt, wird die Trauer der Deutschen ein unerschöpflicher Brunnen sein, und es wird sie von den Juden nicht mehr viel unterscheiden. Hitler hat die Deut- schen zu Juden gemacht, in einigen wenigen Jahren, und ›deutsch‹ ist nun ein Wort geworden, so schmerzlich wie ›jüdisch‹«.688 Eingeholt hat ihn die Versuchung, »ganz Jude zu sein«, noch einmal  – bei seiner Reise nach Marrakesch im Jahr 1954. Beim Besuch der Mellah, des alten Judenvier- tels, begegnete er plötzlich Vertrautem : »Ich ging so langsam wie möglich vorüber und betrachtete die Gesichter. Ihre Verschiedenartigkeit war erstaunlich. Es gab Ge- sichter, die ich in anderer Kleidung für Araber gehalten hätte. Es gab leuchtende alte Juden von Rembrandt. Es gab katholische Priester von listiger Stille und Demut. Es gab Ewige Juden, denen die Unruhe über die ganze Gestalt geschrieben war. Es gab Franzosen. Es gab Spanier. Es gab rötliche Russen. (…) Ich dachte an Seelen- wanderung. Vielleicht, sagte ich mir, muss jedes Menschen Seele einmal zum Juden werden, und nun sind sie alle hier : Keine erinnert sich daran, was sie früher war 687 Canetti, Provinz des Menschen, S.  61. Zur Ambivalenz Canettis siehe auch : Kristie A. Foell : Elias Canetti. Der unfreiwillige Jude, in : Dossier 25 : Kurt Barsch/Gerhard Melzer (Hg.) : Elias Canetti (Graz 2005), S.  126–135. 688 Canetti, Provinz des Menschen, S.  67.
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Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Titel
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Untertitel
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Autor
Hannelore Burger
Ort
Wien
Datum
2014
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-205-79495-0
Abmessungen
15.5 x 23.5 cm
Seiten
292
Schlagwörter
Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
Kategorien
Geschichte Historische Aufzeichnungen

Inhaltsverzeichnis

  1. Einführung 9
  2. Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
  3. Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
  4. Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
  5. Die josephinische Zäsur 26
  6. Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
  7. Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
  8. Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
  9. Die Vertretung der Tolerierten 39
  10. Das Judenamt 40
  11. Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
  12. Taufen und Nobilitierungen 47
  13. Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
  14. Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
  15. und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
  16. Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
  17. Juden als österreichische Reichsbürger 62
  18. Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
  19. Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
  20. Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
  21. Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
  22. Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
  23. Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
  24. Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
  25. Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
  26. Paradoxe Fremde 85
  27. Die dualistische Verschärfung 86
  28. Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
  29. Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
  30. Heimatrecht und soziale Frage 91
  31. Der Fall Dr. Hugo Stark 92
  32. Der Fall Julia Singer 93
  33. Der Fall Lea Weitzmann 95
  34. »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
  35. Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
  36. Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
  37. Kafkas Sprachen 100
  38. Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
  39. Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
  40. Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
  41. Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
  42. Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
  43. Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
  44. Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
  45. Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
  46. Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
  47. Juden im Ersten Weltkrieg 130
  48. Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
  49. Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
  50. Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
  51. Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
  52. Signaturen der Vertreibung 152
  53. Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
  54. Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
  55. Der Fall Raviv 172
  56. Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
  57. Der Fall Elias Canetti 188
  58. Der Fall Manès Sperber 200
  59. Semantische Nachbemerkungen 213
  60. Verzeichnis der Archive 222
  61. Literaturverzeichnis 223
  62. Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
  63. Zeittafel 245
  64. Register 264
  65. Personen 264
  66. Orte 269
  67. Sachen 271
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