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Staatenlosigkeit als Massenschicksal 197
und selbst wenn es sich in den Zügen so deutlich verrät, dass ich, ein Fremder, es
erkenne, glaubt jeder dieser Menschen doch fest daran, dass er in gerader Linie von
den Leuten der Bibel abstammt.«689 Er begegnete Elié, einem Namensvetter, wurde
von dessen Familie freundlich aufgenommen und bekam neben anderen Köstlich-
keiten eingemachte Früchte angeboten, wie sie seine Mutter zu machen pflegte. Höf-
lich, aber bestimmt, wies er die Früchte zurück, »vielleicht«, wie er sagt, »weil sie
mich zu sehr anheimelten«. Dann sprach er davon, dass seine Vorfahren aus Spanien
gekommen seien und fragte, »ob es noch Leute in der Mellah gäbe, die das alte Spa-
nisch sprächen«. Doch es gab niemanden mehr und nur wenige Alte wussten noch
von der Flucht der Juden aus Spanien.690 Am Ende schienen ihm die Einwohner
sogar ein wenig enttäuscht zu sein über sein Outing als »Israelit«. Vielleicht, meint
er, »hätten sie sich den Fremden ganz fremd gewünscht«.691 Und so erwies sich sein
erstes Gefühl des Angekommenseins als Illusion und wurde mit den »Stimmen von
Marrakesch« zu einem Stück berührender Literatur.
Im Jahr 1952 endlich sollte sich Vezas Traum doch noch erfüllen. Elias Canetti
(und mit ihm seine Ehefrau) wurden britische Staatsbürger. Er hatte sich mit diesem
Schritt Zeit gelassen. Erst nach dem Erscheinen der Blendung in England, seinem
ersten großen Erfolg, und nach über dreißig Jahren der Staatenlosigkeit, entschloss
sich Canetti zu diesem Schritt. Hatte er noch während des Krieges sich eher als
öster
reichischer Exilant gefühlt und als solcher sich gemeinsam mit seinen Freunden
Walter Hollitscher, Anna Mahler und Otto Erich Deutsch auch politisch engagiert
–
gegen die Annexion Österreichs und für das Selbstbestimmungsrecht der österrei-
chischen Nation692
–, so war ihm das Exilland nun »Heimat« geworden. »Ich spüre«,
schreibt er in einem Brief an seine Freundin Marie-Louise von Motesiczky, »wie
ich auf die Franzosen hier als Engländer reagiere, und nicht wie früher als Wiener,
Schweizer oder Balkanese«.693 Und vielleicht entsprach ihm ja auch die britische
Untertanenschaft (subjecthood) am ehesten, umfasste sie doch nicht nur das Com-
monwealth mit seinen zahllosen Völkerschaften, sondern – auch als europäischer
Nationalstaat – immer schon eine Vielheit von Nationalitäten (die walisische, die
schottische, die irische und die englische).
Seinen britischen Pass und seine Londoner Wohnung behielt Canetti auch nach
dem Tod Vezas (1963) und seiner Heirat mit Hera Buschor (1971). Im Jahr 1972
begründete das Paar in Zürich einen gemeinsamen Wohnsitz. Erst 1988, nach dem
689 Elias Canetti : Die Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen einer Reise (München 1968), S. 40.
690 Ebenda, S. 60.
691 Ebenda, S. 59.
692 So trägt eine Deklaration verschiedener Exilorganisationen von 1941 seine Unterschrift, auch un-
terstützte er eine Aktion des linken Flügels des »Austrian Centre«, vgl. Hanuschek, Canetti, S.
320.
693 Ebenda, S. 377.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271