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Staatenlosigkeit als Massenschicksal 203
und der Ironie, aber auch der Enge, dem Hunger, den unterernährten Kindern. Ein
russischer Artillerieangriff im Herbst 1915, bei dem sich Sperber hinter einem Grab-
stein auf dem jüdischen Friedhof verbarg, beendete jäh die Kindheit : ein zerfetztes
Pferd, ein toter Soldat wurden zum Urbild des Krieges, zur Quelle eines lebens-
langen, leidenschaftlichen Pazifismus. Als die Front im Zuge der Kriegshandlun-
gen mehrfach über Zabłotow hinwegging, floh die Familie über Mähren nach Wien,
wo sie am 27. Juli 1916 auf dem Franz-Josephs-Bahnhof ankam. Um den stren-
gen Melde gesetzen zu entsprechen, begab sich der Vater, David Sperber, bereits am
nächsten Tag auf das Polizeikommissariat des zweiten Wiener Gemeindebezirkes, der
Leopoldstadt, um sich, seine Frau Jente und seine drei Söhne
– unter Vorlage seines
Heimatscheins – in der Lilienbrunngasse, dem langjährigen Domizil der Familie,
anzumelden.714 Der Heimatschein wies ein Heimatrecht der Familie in Zabłotow,
Galizien aus, was bedeutete, dass sie in Wien zwar als österreichische Staatsbürger,
doch in heimatrechtlichem Sinn als Fremde lebten.
Wien
– im zweiten Jahr des Ersten Weltkrieges
– zeigte sich jedoch keineswegs als
jener »leuchtende Kristall«, als welchen der junge Manès die Haupt- und Residenz-
stadt des Reiches imaginiert hatte. Bitterer noch als der soziale Absturz, der tiefe Fall
in die äußerste Armut, sei die alltägliche Erfahrung des Antisemitismus gewesen :
Im Oktober 1916, am Tag des Attentats Friedrich Adlers auf den Außenminister
Graf Stürgkh, drückte in der aufgewühlten Menge ein Fremder eine glühende Zi-
garette im Nacken des Elfjährigen aus. Die Schule wurde für das begabte Kind zum
Alptraum, zum Ort endloser Demütigungen. Rettung gab es nicht in der Religion
–
gegen Gott hatte das Kind schon früh rebelliert, indem es zornig Steine in den Him-
mel warf
–, sondern allein in der Literatur. Dostojewski wurde zur Lebensschule, die
Leihbibliothek zur eigentlichen Bildungsanstalt.
Noch in das Jahr der Ankunft in Wien fiel am 21. November der Tod des alten
Kaisers. Den elfjährigen Manès ließ der prunkvolle Leichenzug, den er von der Do-
minikanerbastei aus beobachtet, gleichgültig
– nicht so den Vater. Dieser schluchzte
laut : »Mit ihm endet Österreich. Er ist ein guter Kaiser für uns gewesen ; jetzt wird
alles ungewiss. Für uns Juden ist das ein großes Unglück.«715 Für die Generation
des Vaters war Franz Joseph der Garant ihrer staatsbürgerlichen Rechte, der »Be-
schützer gegen Willkür und Hass«. Erst Jahrzehnte später wurde auch für den Sohn
der Kaiser zur »unantastbaren Institution«, deren Ende viel mehr als bloß den Tod
eines Monarchen bedeutete. »Dass man ein Österreicher war«, so Sperber, »hing
714 Die Meldezettel der Familie Sperber weisen ab 28. Juli 1916 als Wohnort Lilienbrunngasse 18/30,
ab 27. November 1916 Lilienbrunngasse 8, im zweiten Wiener Gemeindebezirk aus. WStLA, Sper-
ber.
715 Manès Sperber : Die Wasserträger Gottes. All das Vergangene (Frankfurt a. M. 1993), S. 36.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271