Seite - 205 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Bild der Seite - 205 -
Text der Seite - 205 -
Staatenlosigkeit als Massenschicksal 205
9.
September 1919 versucht, alle Ostjuden auszuweisen, die nach Beginn des Erstens
Weltkrieges nach Wien gekommen waren und kein permanentes Aufenthaltsrecht
besaßen. Da jedoch der Sever-Erlass – vor allem aufgrund von Transportproble-
men – scheiterte, versuchte man später auf legistischer Ebene zu einer solchen In-
terpretation des Artikel 80 zu gelangen, die eine Anerkennung von Optionen von
in Österreich verbliebenen »Ostjuden« unmöglich machen würde.719 Mit einer Re-
solution des Plenums des österreichischen Nationalrats vom 10. März 1921 wurde
die Regierung aufgefordert, bei der Erledigung von Optionsansuchen »insbesondere
der Forderung der Rassezugehörigkeit zur Mehrheit der österreichischen Bevölkerung
gebührend Rechnung zutragen«.720 Zusammen mit einem Erkenntnis des Verwal-
tungsgerichtshofs vom 9. Juni 1921, mit welchem das Optionsansuchen des aus
Lisko in Galizien stammenden Moses Dym wegen Nichterbringung des Beweises
»der Zugehörigkeit zur deutschen Mehrheit der österreichischen Bevölkerung« ab-
gewiesen wurde,721 bildete diese Resolution die Grundlage für die nach dem öster-
reichischen Innenminister Leopold Waber sogenannte »Wabersche Optionspraxis«,
nach der Optionsansuchen von Ostjuden unter Hinweis auf deren Rasse generell
abzuweisen waren.
Ob David Mechel Sperber, der Vater Manès Sperbers, unter jenen etwa 20 000
Ostjuden war, die nach 1919 für Österreich optiert hatten, ist ungewiss. Sicher ist,
das beweisen die Meldezettel der Familie, dass David Sperber bis zum Ende der Ers-
ten Republik für sich und seine Familie kein Heimatrecht in Wien
– die Bedingung
für den Eintritt in die österreichische Staatsbürgerschaft – erworben hatte. Der Re-
publik Österreich galten sie als »polnische Juden«, waren Ausländer. Für den jungen
Manès hatte dieser Tatbestand – wenn er davon überhaupt wusste – wenig Bedeu-
tung. Seine Welt war eine übernationale : die der sozialistischen Versammlungen,
der zionistischen Jugendbewegung. Er schloss sich dem linken Hashomer Hatzair
an, verließ das Gymnasium, lebte, nach Konflikten mit dem Vater, von den Eltern
getrennt in verschiedenen Untermieten, erwarb sich im Selbststudium eine umfas-
sende Bildung. Im Sommer 1921 begegnete er Alfred Adler, dem charismatischen
Begründer der Individualpsychologie. Er wurde einer seiner ersten Schüler und er-
langte 1926 ein vom Meister selbst ausgestelltes Diplom für Heilpädagogik, das ihm
719 Vgl. Grandner, Staatsbürger, S. 75.
720 Stenographische Protokolle des Nationalrates der Republik Österreich. 1920–1923 (Wien 1923),
S. 57, (Hervorhebung nicht im Original).
721 Die Mehrheit des Verwaltungsgerichtshofes war anlässlich des Falls Dym zu der Erkenntnis gelangt,
dass »Rasse« eine dem Menschen »angestammte, ihm inhärente, durch physische und psychische
Momente bestimmte und charakterisierte Eigenart dauernden Charakters« sei. Ein »anhaftender
Zustand, der nicht willkürlich abgelegt und nicht nach Belieben verändert werden kann«. Erkennt-
nis des Verwaltungsgerichtshofs vom 9. Juni 1921, Z 2973, zit. nach Grandner, Staatsbürger, S.
79.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271