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206 Staatenlosigkeit als Massenschicksal
eine berufliche Perspektive eröffnete. Im Alter von einundzwanzig Jahren begann
Sperber, pädagogische und (individual)psychologische Vorträge zu halten, arbeitete
mit Jugendlichen in Heimen, verkehrte in den Wiener Kaffeehäusern – vor allem
im Herrenhof und im Siller, dem damaligen Hauptquartier der Adlerianer – und
veröffentlichte einen ersten Essay über die individualpsychologische Methode Adlers.
Zu einem turning point in der Geschichte der Republik wie im persönlichen Le-
ben Sperbers wurde der 15. Juli 1927. Gemeinsam mit seinem kommunistischen
Freund Alex Weissberg wurde er Augenzeuge jenes Fanals, das auf das berüchtigte
Urteil von Schattendorf folgte : des Justizpalastbrandes. »Nichts setze Menschen so
leidenschaftlich in Bewegung«, schrieb Sperber später über das Ereignis, das Öster-
reich für einen Tag an den Rand einer Revolution bringen sollte, als das Gefühl,
»wonach die Justiz die Gerechtigkeit und mit ihr die Opfer verhöhnt.«722 Das Ge-
schehen vor dem »Palast des Unrechts« habe – und das hat er mit den ebenfalls
Anwesenden Elias Canetti und Heimito von Doderer gemeinsam – nie aufgehört
auf ihn zu wirken.723 Alle drei Augenzeugen sollten das Ereignis später in Literatur
verwandeln, Sperber in seiner eindringlichen Parabel vom brennenden Dornbusch,
die er seinem Epos »Wie eine Träne im Ozean« voranstellt.
Die Enttäuschung über die zögerliche Haltung der Sozialdemokratie und die
Schwäche der österreichischen Kommunisten, wohl aber auch der Wunsch Alfred
Adlers, einen Mann seines Vertrauens mit dem Aufbau der individualpsychologi-
schen Schule in Deutschland zu betrauen, bewogen Sperber im Herbst 1927, nach
Berlin zu gehen. Er reiste mit einem Pass, ausgestellt von der Wiener Polizeidirek-
tion, der ihn als »staatenlos« auswies. In Berlin trat Sperber der Deutschen Kommu-
nistischen Partei bei, widmete sich mit Eifer der Parteiarbeit, gründete zusammen
mit Wilhelm Reich eine psychotherapeutische Praxis und hielt Vorträge über die
sozialen Ursachen psychischer Störungen, unter anderem an der berühmten Marxis-
tischen Arbeiterschule masch, an der auch Georg Lukács, Willi Münzenberg, Bert
Brecht, Walter Gropius und Albert Einstein unterrichteten. Sperbers parteipolitische
Aktivitäten sowie die Begründung einer »Fachgruppe für dialektisch-marxistische
Psychologie« (gemeinsam mit Alice Rühle-Gerstel, ihrem Mann Otto Rühle, Ilse
Lang u. a.), deren Programm es war, Marxismus und Tiefenpsychologie zu verbinden,
führten schließlich zur Krise und letztlich zum Bruch mit dem verehrten Lehrer
Alfred Adler, der bestrebt war, seine Lehre vor jeder ideologischen Vereinnahmung
zu bewahren.724
722 Manès Sperber : Die vergebliche Warnung (Frankfurt a. M. 1993), S. 148.
723 Sperber, Vergebliche Warnung, S. 154.
724 Vgl. Marta Marková : Auf ins Wunderland ! Das Leben der Alice Rühle-Gerstel (Innsbruck 2007),
S. 91.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271