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Staatenlosigkeit als Massenschicksal 209
Es war eine Zeit der Flucht – nicht nur vor den Deutschen : Sein Freund und
Mentor Willi Münzenberg, der 1938 ebenfalls mit der Kommunistischen Partei
gebrochen hatte, wurde in einem Wald in Südfrankreich tot aufgefunden, ermor-
det von ehemaligen Genossen. In der Figur des Lagrange setzte ihm Manès Sperber
ein spätes Denkmal. »Es waren«, ließ er einen Genossen sagen, »wirre Zeiten, man
rechnete mit den Verrätern ab, den Kollaborateuren«. Man habe mit ihm »kurzen
Prozess gemacht«.730
Im September 1942
– inzwischen hatten auch im freien Süden die Deportationen
von Juden begonnen – gelang Sperber mit Jenka, seiner zweiten Frau, und ihrem
drei Monate alten Sohn Dan, die Flucht über einen Alpenpass in die Schweiz – mit
einem falschen französischen Identitätsausweis, der ihn als Elsässer auswies. Erst
1943 – seine Lage hatte sich inzwischen insofern gebessert, als er mit seiner Familie
von dem evangelischen Pastor Adolf Maurer aufgenommen worden war, er schrei-
ben, wenn auch nicht publizieren konnte – erfuhr Sperber von einem Treblinka-
Flüchtling (Hermann Kesten) von der Verfolgung und Ermordung der Juden in den
Ghettos und Schtetl des Ostens. Was der in marxistischer Analyse geschulte Sperber
nicht hatte wahrhaben wollen, dass das nationalsozialistische Programm, entgegen
jeder »Kapitallogik«, auf die Vernichtung (nicht mehr bloß ökonomische Ausbeu-
tung) der europäischen Juden zielte, wurde nun zur »unfassbaren Gewissheit«. (Dass
die »Endlösung« auch sein eigenes Schtetl, Zabłotow, besonders früh und besonders
grausam getroffen hatte, wusste er damals noch nicht.731)
Im September 1945 – Sperber war mit einem Repatriierungszug in Frankreich
eingetroffen
– gab es ein Wiedersehen mit André Malraux, dem Freund aus der Zeit
der Résistance (inzwischen Informationsminister in der provisorischen Regierung
Charles de Gaulles, zuständig unter anderem für die Entnazifizierungsmaßnahmen
in der französischen Zone des besetzten Deutschlands). 1946 wurde er von Malraux
mit einer besonderen Mission betraut. Mit einem provisorischen Pass ausgestattet
reiste Sperber als »Beauftragter für den kulturellen Wiederaufbau« nach Mainz. Hier
sollte er – so sein Auftrag – ein Zeitschriftenprojekt zur demokratischen Erziehung
der Deutschen entwickeln : die »Umschau«. Nach dem Scheitern des Umschau-Pro-
jekts trat Sperber, wieder auf Vermittlung Malraux’, als Lektor beim Pariser Verlag
730 Manès Sperber : Wie eine Träne im Ozean (Wien 1961), S. 1021.
731 In der Nacht auf den 22. Dezember 1941 waren 900 Juden aus Zabłotow aus der Stadt geführt
worden und nach Aushebung eines Massengrabes erschossen und verbrannt worden. Die ver-
bliebenen Juden (viele davon Frauen und Kinder) wurden am 11. April 1942 in das Ghetto von
Kolomea/Kołomyja deportiert (darunter auch Sperbers Großmutter). Die Liquidation des Ghet-
tos von Kolomea erfolgte im Januar 1943 (Sperbers Großmutter verhungerte, da man sie vergaß).
Encyclopaedia Judaica, in 26 Bänden (Jerusalem/New York 1971ff), Bd. 16, Eintrag Zabłotov v.
13.5.1978.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271