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Staatenlosigkeit als Massenschicksal 211
Wie Jenka Sperber in ihrem Essay über das letzte Jahr Sperbers schreibt, befiel ihn
im Jahr 1952 (nach der Vollendung seiner Romantrilogie)734, eine schwere Depres-
sion, die später in einer Angina pectoris mündete. Einen möglichen Grund nennt
er selbst in »Churban oder die unfassbare Gewissheit«. Für Manès Sperber bestand
im Sommer 1952 kein Zweifel mehr, dass Stalin fortsetzte, was vor dreihundert Jah-
ren von Bogdan Chmelnitzkij begonnen worden war. »In den sowjetischen Zeitun-
gen hetzt man gegen die ›Kosmopoliten‹, indem man ihre jüdische Abstammung
enthüllt. Leute ohne Ausweis, als solche bezeichneten die Pogromisten seinerzeit die
Juden. Der Ausdruck wird nun wieder verwandt und kehrt in der offiziellen Spra-
che immer wieder. (…) Nach dem Churban lebten in der Sowjetunion noch eine
Million Juden. Das autoritäre Regime kann ihre Existenz nicht dulden, weil es ist,
was es ist. Und weil sie, die Juden, geblieben sind, die sie immer waren. (…) Ob
man ihre Vernichtung »mit der Notwendigkeit begründen wird, die Kosmopoliten
ohne Vorfahren, die Individuen ohne Reisepass endgültig zu beseitigen, um das Kom-
plott der trotzkistisch-zionistischen Verschwörer in den Satellitenstaaten zu verhin-
dern – gleichviel. Die Juden können in der Sowjetunion zugrunde gehen, fast ohne
Geräusch.«735
Als Manès Sperber dies im Juni 1952 schrieb, zur Zeit des Korea-Krieges und
am Höhepunkt des Kalten Krieges, war er noch immer ohne Ausweis. Zwar wies ihn
schon 1946 ein Dokument – jener Ordre de Mission, mit dem ihn Malraux in das
besetzte Deutschland schickt – als »Franzose« aus, doch handelte es sich dabei um
einen Pass der provisorischen Regierung. Naturalisiert wurde Sperber in Frankreich
erst im Jahr 1960. Was erklärt sein langes Zögern ? Könnte es sein, dass es die Na-
tion, der er angehören wollte, allein angehören konnte, noch nicht gab, dass Sperber,
wie Jean Pierre Condere vermutet, trotz seiner Liebe zu Frankreich auf das Kom-
men eines europäischen Passes gewartet habe ?736 Sperber selbst schreibt im dritten
Band seiner Autobiographie, ohne das Faktum seiner Einbürgerung in Frankreich
zu erwähnen : »Seit langem war ich kein Emigrant mehr ; die Hälfte des Lebens lag
hinter mir, es war Zeit, dass da, wo ich lebte, für mich hier werde und jeder andere
Ort dort«. Er hatte für sich nun auch die Frage der Sprache gelöst, wurde ein zwei-
sprachiger Schriftsteller, schrieb die Romane deutsch und die Essais französisch.737
734 Vgl. Stancic, Manès Sperber, S. 521, sowie Jenka Sperber : Sein letztes Jahr (München 1985).
735 Manès Sperber : Mein Judesein, in : Churban oder Die unfassbare Gewissheit (Wien/München/
Zürich 1979), S. 109f.
736 »… malgré son amour de la France, ne peut se prendre pour un Français. Son arrangement intime,
c’est d’avoir imaginé un passeport européen dont il serait l’unique détenteur«. Jean Pierre Condere
in : L’Express v. 25.11.1983, S. 87.
737 Manès Sperber : Bis man mir Scherben auf die Augen legt. All das Vergangene. Band 3 (Frankfurt
a. M. 1977), S. 364.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271