Seite - 214 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Bild der Seite - 214 -
Text der Seite - 214 -
214 Semantische Nachbemerkungen
dieser Diskussion ist, dass von jüdischer Seite die Möglichkeit einer transnationalen
Staatsbürgerschaft in der Vergangenheit eher verneint wurde. So wies der französi-
sche Intellektuelle Raymond Aron im Jahr 1973 darauf hin, dass die Staatsbürger-
schaft wechselseitige Rechte und Pflichten beinhalte
– allen voran die Wehrpflicht
–
und sie deshalb sogar »in ihrer Quintessenz national« sei.744 Und Hannah Arendt
plädierte in ihren Werk »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« eindringlich
für einen Primat der Staatsbürgerrechte (und den Nationalstaat als Garanten der-
selben) gegenüber vermeintlich universalen, in Wahrheit aber – ohne diesen staat-
lichen Garanten – bedeutungslosen Menschenrechten.745 »Die Juden meiner Gene-
ration können nicht vergessen«, so noch einmal Raymond Aron, »wie zerbrechlich
diese Menschenrechte wurden, als sie nicht mehr mit den (Staats)Bürgerrechten
einhergingen.«746 In den letzten Jahren zeichnet sich jedoch so etwas wie ein Primat
der Menschenrechte ab. Diese werden jetzt nicht mehr nur in einzelnen nationalen
Verfassungen, etwa durch Grundrechtskataloge, garantiert, sondern in zahllosen su-
pranationalen Rechtsabkommen kodifiziert und konkretisiert. Durch die antidis-
kriminatorische und appellative Tätigkeit von »Non-Governmental Organisations«
seien sie, so Gerald Stourzh, im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit präsenter denn
je.747 Internationalisierung und Globalisierung haben nicht zuletzt auch zu einer
gewissen Ent-grenzung des Rechts geführt – davon ist das Staatsbürgerschaftsrecht
nicht ausgenommen.
Bezeichnete der Begriff Staatsbürger bisher eine Person, die
– um eine alte Formel
des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches von 1811 aufzunehmen – im »vollen
Genuß der bürgerlichen Rechte« ist, so haben die vorgenannten Entwicklungen
dazu geführt, dass in vielen Staaten immer mehr Menschen von diesem vollen Ge-
nuß der bürgerlichen Rechte ausgeschlossen sind. Zwar sind die sichtbaren Außen-
grenzen eines Staates – zumindest in Europa – überall im Schwinden, doch neue,
unsicht bare Grenzen tun sich auf in allen Ländern zwischen Staatsbürgern und
Nichtstaatsbürgern, zwischen Inlän dern und »Fremden«, Fremden mit Teil rechten
und Fremden mit geringen Rechten. Alle diese Entwicklungen führten in letzter
Zeit dazu, dass von den verschiedensten rechtsphilosophischen, soziologischen und
gedruckte Dissertation von David Reichel : Staatsbürgerschaft und Integration. Die Bedeutung der
Einbürgerung für MigrantInnen (Wiesbaden 2011).
744 Raymond Aron : Kann es eine multinationale Staatsbürgerschaft geben ?, in : Kleger, Transnationale
Staatsbürgerschaft, S. 24–41 sowie Einleitung zu diesem Band, S. 21.
745 Arendt, Ursprünge, S. 453ff. Eine Position, die allerdings auch viel Kritik erfahren hat, etwa, dass
Arendt nie einen Weg aus dem »Trauma« der Staatenlosigkeit gewiesen habe und gegenüber der
Durchsetzbarkeit von universalen Standards der Menschenrechte zu pessimistisch eingestellt gewe-
sen sei. Siehe : Cohen, In War’s Wake, S. 89.
746 Raymond Aron, zit. nach : Kleger, Transnationale Staatsbürgerschaft, S. 21.
747 Stourzh, Die Gleichheit alles dessen, S. 282.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271