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216 Semantische Nachbemerkungen
Intellektuelle, darunter Albert Einstein, Bertrand Russell, Bernhard Shaw, John dos
Passos und Aldous Huxley, in einem offenen Brief an den damaligen Generalsekretär
der Vereinten Nationen, Trygve Lie, eine world citizenship für die Millionen von
staatenlosen Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg gefordert. Die Unterzeich-
neten verlangten – allerdings vergeblich –, dass die Staatenlosen nicht verpflichtet
werden sollten, sich um eine Nationalisierung in einem bestimmten Nationalstaat
zu bewerben. »By sheer force of events they have acquired the feeling of belonging
to a community larger than one nation. Ideed, History made them citizens of the
world, and they should be treated as such«753 – ein Aufruf, der bloße Utopie bleiben
sollte. Im Gegenteil drifteten die einzelnen historisch gewachsenen Staatsbürger-
schaftsrechte immer weiter auseinander. Neuere rechtsvergleichende Studien weisen
immer wieder auf die Unvereinbarkeit der höchst unterschiedlichen Staatsbürger-
schaftskon zeptionen im europäischen Raum hin : auf die Dichotomie von Code civil
und preußischem All gemei nen Land recht und die mit diesen Kodizes verbundenen
Rechts begriffe ius soli und ius sangui nis (ein »Recht des Bodens« und ein »Recht des
Blutes«) – auf eine ver meintlich fortschrittliche und eine vermeintlich rückschritt-
liche Konzeption von Staats bürger schaft.754 Die Staatsbürgerschafts kon zeptionen
der »Vielvölkerreiche« erfahren dagegen erst in jüngster Zeit einige Aufmerksamkeit,
und man beginnt, die besondere Bedeutung von Staatsbürgerschaft für multinatio-
nale/mul
tiethni
sche Staaten zu erkennen. Was die Menschen in einem multinationa-
len Staat bindet, konstatiert etwa T. K. Oommen in einer komparati stischen Studie
für Groß britannien und Indien, »is common citizenship«, wobei er Staatsbürger-
schaft als den Kitt zwischen den differenten ethnischen und kulturellen Entitäten
auffasst.755
Es wurde in dieser Studie nicht versucht, das eine Modell österrei chischer
Staatsbürger schaft zu liefern, das sich um standslos in eine europäi sche Matrix
einschrei ben ließe. Die Praxis des Staatsbürger
schafts rechts in der österreichischen
Monarchie war – wie in jedem anderen Staat auch – eine Praxis der Einschlie-
ßungen und Aus schlie ßungen. Diese wurde im Laufe der historischen Entwicklung,
wie gezeigt, einmal aufge klärt-physiokratisch, ab solutistisch, neo absolu ti stisch-
753 Zit. nach : Cohen, In War’s Wake, S. 91.
754 Brubaker : Staats-Bürger ; Julia Kristeva : Fremde sind wir uns selbst (Frankfurt a. M. 1990),
S. 104ff.; Rogers Brubaker : Einwanderung und Nationalstaat in Frankreich und Deutschland, in :
Der Staat 28 (1989) 1–30 ; Reinhart Koselleck : Preußen zwischen Reform und Revolution. All-
gemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848 (= Schriftenreihe des
Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte 7) (Stuttgart 1967), S. 53–77 ; Christoph Conrad/
Jürgen Kocka (Hg.) : Staatsbürgerschaft in Europa : historische Erfahrungen und aktuelle Debatten
(Hamburg 2001).
755 T.K. Oommen : Citizenship, Nationality and Ethnicity. Reconciling Competing Identities (Cam-
bridge 1997), S. 45.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271