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Semantische Nachbemerkungen 217
zentralistisch, dann konstitutionell-duali stisch bzw. konstitutionell-diffe rentiali-
stisch gehand habt, zu keiner Zeit allerdings – auch nicht in der Spätzeit der Mon-
archie, als ethnisierende Tendenzen sich auch in der Praxis des Staatsbürgerschafts-
rechts breitmachten
– konnte der ursprüng liche »Geist der Gesetze«, den Franz von
Zeiller in seinen Vorträgen und Kommentaren zum »Allgemeinen bürgerlichen
Gesetzbuch« eindrucksvoll darge legt hat, in dem sich physiokratische, naturrecht-
liche und kantianisch-weltbürgerliche Grundsätze widerspiegeln, völlig verleugnet
werden.756
Die frühneuzeitlichen Begriffe »Bürger« (civis) und »Untertan« (subditus) hatten
über Jean Bodin, Samuel Pufendorff und Hugo Grotius schon früh Eingang in die
österreichische Natur rechtslehre, insbesondere bei Carl Anton von Martini, gefun-
den.757 Dass auch der Begriff Staatsbürger im österreichischen Rechtswesen überra-
schend früh auftaucht, darauf wurde eingangs schon hingewiesen : »Jeder Staatsbür-
ger ohne Unterschied des Ranges, des Stan des oder Geschlech tes ist verpflichtet die
allgemeine Wohlfahrt des Staates durch genaue Befolgung der Gesetze möglichst
befördern zu helfen«, heißt es etwa in jenem »Ur-Entwurf« für ein österreichisches
allgemeines Gesetzbuch, das unter dem Namen »West galizisches bürgerli ches Ge-
setzbuch« (WGGB) 1797 kundgemacht wurde758 – nur wenige Jahre nach dem der
Begriff »Staats-Bürger« durch Wieland populär geworden war und durch Kant seine
vorläufige Prä gung gefun den hatte.759 Eine Definition des Begriffs Staats bürger al-
lerdings findet sich in jenem Westgalizischen Gesetzbuch ebenso wenig wie in dem
durch zwei große Revisionen gegange nen, inhalt lich wie formal stark ver änder ten,
mit Patent vom 1. Juni 1811 kundge machten Allgemei nen bürger
li chen Gesetz buch
(ABGB). Mit diesem wurden zwar erst mals in seinem Geltungsbereich genaue Be-
756 Franz v. Zeiller, Vortrag zur Einleitung in das bürgerliche Gesetzbuch vom 5. Juli 1810 vor der
Hofkommission in Gesetzessachen, Allgemeines Öster reichisches Verwaltungsarchiv, Wien (AVA),
Bestand Oberste Justiz, Fasc. ABGB, aus 1810 (Brandakt), S. 23.
757 Siehe dazu : Manfred Riedel : Stichwort : Bürger, Staatsbürger, Bürger tum, in : Otto Brunner/Wer-
ner Conze/Reinhart Kosel leck (Hg.) : Ge schichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur
politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1 (Stuttgart 1973), S. 672–718.
758 Zit. nach : Julius Ofner (Hg.) : Der Ur-Entwurf und die Berathungs-Protokolle des Österrei chi-
schen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, Bd. 1 (Wien 1889), S. IV.
759 Wieland hatte bereits im September des Revolutionsjahrs 1789 im »Teutschen Merkur« nach ei-
nem Äquivalent für Citoyen gesucht und dafür das deutsche Wort Staats-Bürger eingesetzt. Kant
hat den Begriff zuerst in seiner Schrift Ȇber den Gemeinspruch : Das mag in der Theorie richtig
sein, taugt aber nicht für die Praxis« (er schienen 1793 in der »Berlinischen Monatsschrift«) verwen-
det : »Derjenige nun, welcher das Stimm recht in dieser Gesetzgebung hat, heißt ein Bürger (citoyen,
d.i. Staatsbürger, nicht Stadt bürger, bourgeois).« (Wilhelm Weischedel (Hg.) : Werk ausgabe Bd. XI
(Frankfurt am Main 21964), S. 151) ; zwei Jahre später, 1795, ver wendete er den Begriff bereits
ohne Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Staatsbürgern. Immanuel Kant : Zum ewigen
Frieden, Wilhelm Weischedel (Hg.) : Werk ausgabe Bd. XI, S. 204.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271