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Semantische Nachbemerkungen 219
Gesetzbuches vergeblich gestrebt hatten : die Zurückweisung jedes Partikularismus,
die Aufhebung jeder besonderen Landeszugehörigkeit, die Verwirklichung des mo-
dernen Einheitsstaates.764
Einheitlichkeit, Gleichförmigkeit und Allgemeinheit blieben auch dann das Ideal,
als nach dem Ausgleich von 1867 die Monarchie in zwei wesensverschiedene Reichs-
hälften geteilt wurde, wobei sich Ungarn in Konsequenz des Dualismus ein mo-
dernes, nach französischem Vorbild »in einem Guß« geschaffenes Staatsbürgerrecht
gab.765 Für das für die österreichische Reichshälfte am 21. Dezember 1867 verkün-
dete »allgemeine Staatsbürgerrecht« blieb das angekündigte Ge setz über die besonde-
ren Bedingungen, unter welchen die Staatsbürgerschaft erworben und verloren wird,
jedoch aus.766 Das österreichische (cisleithanische) Staatsbürgerschaftsrecht exis-
tierte also weiterhin in einer Vielzahl von Einzeldekre
ten, die teils vor, teils nach und
in Ergänzung zum All
gemeinen bürgerlichen Gesetz
buch von 1811 erlassen worden
waren. Auch standen die beschriebenen älteren Rechtsformen Incolat und Indigenat,
»gemischte Untertanen« (sujets mixtes), Schutzgenossen und Untertanen de facto bis
zum Ende der Monarchie einer allgemeinen und gleichen Staatsbürgerschaft, wie
sie mit dem Staatsgrundgesetz vom Dezember 1867 eigentlich hätte durchgesetzt
werden sollen, entgegen. Das von einer älteren Staatswissenschaft beklagte Zufäl lige
und Unbestimm te der histori schen Rechts entwicklung767 barg allerdings auch eine
Chance, die Chance nämlich, nicht nach einem Prinzip handeln zu müssen ; dies
ermöglichte einen Rechtspragmatis mus, der der altö sterrei chischen Gesetzge bung
überhaupt eigen ist.768 Die Tatsache jedenfalls, dass das österreichische Staatsbür-
gerschaftsrecht in seiner Entwicklung vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ende
der Monarchie in seinem Kern durch das Zivilrecht, das Allgemeine bürgerliche
Gesetz buch be stimmt wurde, »dem zugleich verbindlichsten, freiesten und sanftes-
ten Gesetz«769, bedeutete auch, dass es alle Elemente des »natürlichen Privatrechtes« :
Gleich be rechtigung und Gleichbehandlung, Freiwil ligkeit und Vertragsfreiheit
– zu-
mindest als Versprechen – in sich enthielt. (Ralph W. Mathisen wies unlängst mit
764 Josef Fritz Redlich : Das österreichische Staats- und Reichsproblem, Bd. I (Leipzig 1929), S. 341ff.
765 Milner : Gesetz artikel L : 1879, S. 104.
766 »Das Gesetz bestimmt, unter welchen Bedingungen das österreichische Staatsbürgerrecht erworben,
ausgeübt und verloren wird«, lautete der zweite Absatz des Artikel 1, zit. nach : Goldemund/Ring-
hofer/Theurer, Staatsbürgerschaftsrecht, S. 35.
767 Vgl. Fritz Karminski : Zur Codifikation des österreichischen Staats bürgerschaftsrechtes (Wien
1887), S. 4.
768 Zu den philosophischen Grundlagen des Rechtspragmatismus in Österreichs vgl. Michael Be-
nedikt : Natürliches Privatrecht und bürgerliche Souveränität. Franz v. Zeilers Kantrezeption in
Österreich, in : derselbe (Hg.) : Verdrängter Humanismus – verzögerte Aufklärung, Bd. 1 (Wien
1992), S. 659–708, hier : S. 690f.
769 Benedikt, Natürliches Privatrecht, S. 707.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271