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220 Semantische Nachbemerkungen
Bezug auf die heutigen Debatten um Staatsbürgerschaft und Weltbürgerrecht darauf
hin, dass es im Römischen Reich der Zugang und Gebrauch des ius civile, des Zivil-
rechts, war – und nicht Ethnizität oder Religion –, der letztlich darüber entschied,
wer Bürger, cives romani, war und wer nicht.770)
Eine weitere Besonderheit des österreichischen Staatsbürgerschaftsrechts war –
neben der beschriebenen engen Verknüpfung mit dem Heimatrecht –, dass es ab
1867 auch Bestandteil des Grundrechtskatalogs der Verfassung war : »Für alle An-
gehörigen der im Reichrate vertretenen Königreiche und Länder besteht ein allge-
meines österreichisches Staatsbürgerrecht«, lautete Artikel 1 des Staatsgrundgesetzes.
Zu diesen Grundrechten gehörte neben dem Gleichheitsgrundsatz (Artikel 2), der
Freizügigkeit (Artikel 4), der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Artikel 14) auch die
Anerkennung der Verschiedenheit von Ethnizität und Sprache. Zwar war mit dem
im Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes ausgesprochenen Grundrecht auf »Wahrung
und Pflege von Nationalität und Sprache« sowie der »Gleichberechtigung aller lan-
desüblichen Sprachen«
– nicht die jüdische »Nationalität« und schon gar nicht eine
jüdische Sprache, das Jiddische etwa, gemeint (gemeint war vielmehr in liberaler
Tradition ein individuelles Freiheitsrecht, ein Recht des Staatsbürgers), doch der in
Verfassungsrang erhobene Rechtsgrundsatz ethnischer und sprachlicher Neutralität
des Staates kam indirekt auch den Juden zugute.
Es scheint ganz ohne Zweifel, dass es die Inkorporation der Juden in dieses Mo-
dell der österreichischen Staatsbürgerschaft war (im Verein mit einem nunmehr un-
eingeschränkten Zugang zu einem jetzt säkularen und überkonfessionellen Bildungs-
wesen), die den im 18. Jahrhundert begonnenen Emanzipationsprozess vollendete
und den jüdischen Staatsbürgern und – mit großen Einschränkungen, aber zuneh-
mend auch – Staatsbürgerinnen eine nie dagewesene Teilhabe in allen Bereichen
gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens sicherte –
wobei das hier beschriebene komplexe Modell der Staatsbürgerschaft wohl auch zur
Pluralität und Vielfalt des österreichischen Judentums insgesamt beitrug, das einmal
als (Bei-)träger und Speerspitze der Moderne, als Kern (oder Submenge) des neuen
Bürgertums oder auch als Bewahrer traditioneller Lebensformen, als »Residuen einer
Vormoderne« (Dan Diner) in Erscheinung trat.
Die Versuche, dieses Modell zu zerstören – bereits in der Phase einer radikalen
Ethnisierung aller Lebensbereiche in der späten Monarchie und später in der An-
fangsphase der Ersten Republik – sind hier ausführlich beschrieben worden. Doch
erst während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich wurden
mit der Eliminierung des Heimatrechts durch die Zweite Verordnung zum Reichs-
bürgergesetz vom 30. Juni 1939 die letzten Reste dieses Modells endgültig ausge-
770 Mathisen, Peregrini, S. 18.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271