Seite - 12 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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Einleitung12
des frühen 20. Jahrhunderts.2 Emil Nolde schrieb in seiner Autobiographie: „Ich
wußte nichts von Politik. Sie und Kunst schienen mir gegensätzlich.“3 Aber wie
gleichgültig konnte man seiner politischen und gesellschaftlichen Umwelt gegen-
über sein? Und: Konnte man in einer Zeit, in der sich umwälzende politische und
gesellschaftliche Transformationen vollziehen, überhaupt unpolitisch sein?
Immer mehr regte sich in mir der Wunsch, der Frage nach dem Verständnis von
Politik in Künstlerbiographien nachzugehen und nach dem Verhältnis von Kunst,
Politik und Gesellschaft in der Zeit vor 1945 zu forschen. Ich ging dabei von der
These aus, dass im Selbst- sowie im Fremdbild von KünstlerInnen Stereotype prä-
gend waren, die ihre Position innerhalb der Gesellschaft in einem bestimmten Rah-
men festlegten und ihr politisches Selbstverständnis mitbeeinflussten. Im Sinne
eines weit gefassten Politikbegriffs wollte ich nicht nur Reaktionen, Stellungnah-
men oder Interventionen zu politischen Zäsuren, Perioden oder Persönlichkeiten
untersuchen, sondern den Blick auch auf die grundlegende Verortung im gesell-
schaftlichen Wandlungsprozess der Moderne richten. Es galt dominierende gesell-
schaftliche Diskurse des Untersuchungszeitraums aufzuspüren und die jeweilige
autobiographische Positionierung der ausgewählten Künstlerpersönlichkeiten darin
zu hinterfragen und mit ihrer politischen Haltung in Beziehung zu setzen.
Wenn ich hier von Diskursen spreche, orientiere ich mich an Michel Foucaults
Diskursbegriff in folgendem Sinne: „Die Bedingungen dafür, daß ein Diskursge-
genstand in Erscheinung tritt, die historischen Bedingungen dafür, darüber ‚etwas
sagen‘ zu können, und dafür, daß mehrere Menschen Verschiedenes darüber sagen
können, die Bedingungen dafür, daß er sich mit anderen Gegenständen in ein ver-
wandtes Gebiet einschreibt, […] diese Bedingungen sind, wie man sieht, zahlreich
und gewichtig. Das bedeutet, daß man nicht in irgendeiner Epoche über irgendet-
was sprechen kann: es ist nicht einfach, etwas Neues zu sagen; […] Er [Anm.: der
Diskurs] existiert unter den positiven Bedingungen eines komplexen Bündels von
Beziehungen.“4 In diesem komplexen System, das Diskurse erzeugt, sind die in die-
sem Buch auftretenden KünstlerInnen als AkteurInnen eingebunden. Es geht nicht
darum, ihre Reaktionen auf vorgegebene Themen zu untersuchen, sondern sie als
konstitutive Mitglieder des diskursiven Systems zu verstehen. Die vorliegende Stu-
2 Georg Bollenbeck, Tradition. Avantgarde. Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Mo-
derne 1880–1945, Frankfurt am Main 1999, 39.
3 Emil Nolde, Mein Leben, Köln 2008 [EA 1931], 214. Diese Aussage über die scheinbare Gegensätz-
lichkeit von Kunst und Politik wurde von Nolde im Zusammenhang mit dem ihm vorgeworfenen
Antisemitismus vorgebracht, diente also, wie in vielen anderen Fällen, der Rechtfertigung und Wi-
derlegung eines politischen Vorwurfs.
4 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1990, 67
f.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463