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Einleitung16
hat. An der Person von Nietzsche konnte Pletsch aufzeigen, wie sich der junge Phi-
losoph in ein bestehendes biographisches Modell, in seinem Fall jenes des Genies,
einschrieb. Die bewusste Modellierung oder Konstruktion einer Rolle erfordert, so
Pletsch, ein hohes Bewusstsein über das eigene auto/biographische Handeln („au-
tobiographical consciousness“). Wichtig ist, dass dieses Bewusstsein nicht nur ein
gegenwärtiges, sondern ein posthumes Bild miteinbezieht. Es geht – wie es Pletsch
formuliert – um ein Leben „in Erwartung seiner Biographen“ („living in anticipa-
tion of one’s biographers“).9
Neben einem individuellen Zugang stellt sich bei der vorliegenden Arbeit die
Frage nach einer über das Individuelle hinausgehenden kollektiven Identität als
KünstlerIn. Ausgehend von der These von Jan Assmann, die Identität als Sache des
Bewusstseins begreift, formulierte der Historiker Volker Depkat: „Kollektive Iden-
titäten existieren nur in dem Maße, in dem sich einzelne mit den Wertideen und
Normen einer größeren Gruppe identifizieren.“10 Mit der Frage nach einer kollek-
tiven Vorstellung einer Künstleridentität beschäftigten sich bereits in den 1930er-
Jahren im Umfeld von Wiener Schule und Psychoanalyse die beiden Kunsthisto-
riker und Sozialwissenschafter Ernst Kris und Otto Kurz. Ihr Werk zur „Legende
vom Künstler“ erwies sich als wichtiger Zugangsschlüssel für die hier analysierten
Künstlerbiographien.11 Die von Kris und Kurz herausgearbeiteten „biographischen
Formeln“ wurden in den vorliegenden Künstlerauto/biographien gesucht und – so
viel kann unbedingt schon vorweg genommen werden – vielfach bestätigt. Narra-
tive vom Außenseiter-Künstler, vom verkannten Genie, von der frühen und zufäl-
ligen Entdeckung der Begabung – viele bis zu Giorgio Vasaris Künstlerviten des
16. Jahrhunderts zurückreichende „biographische Formeln“ lassen sich auch in
den für diese Studie untersuchten auto/biographischen Darstellungen nachweisen
und als bestimmende Elemente für die jeweilige auto/biographische Konstruktion
festmachen. Damit schließt sich nicht zuletzt der Kreis zu Liz Stanleys Postulat der
Aufhebung einer Grenzlinie von biographischem und autobiographischem Ansatz,
insofern sich klar zeigen lässt, dass die von Kris und Kurz anhand der Künstler-
biographik erarbeiteten Formeln ebenso in der Künstlerautobiographik wirkmächtig
sind. Weniger bedeutend erscheint es dabei, ob die darin tradierten Mythen und
9 Pletsch, Autobiographical Life, 415.
10 Volker Depkat, Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, in: Geschichte und
Gesellschaft 29 (2003) 3, 441–476, 466. – Unter Bezugnahme auf Jan Assmann, Das kulturelle Ge-
dächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.
11 Ernst Kris/Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt am Main
1980.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463