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| 1 Auto/Biographieforschung –
KünstlerInnenforschung36
Arbeit des französischen Literaturwissenschafters Philippe Lejeune legte dieser eine
umfassende Beschreibung und Typisierung der Autobiographie vor und stellte dabei
die These vom „autobiographischen Pakt“ in das Zentrum seiner Argumentation.9
In vier Kategorien (sprachliche Form, behandeltes Thema, Situation des Autors, Po-
sition des Erzählers) werden die Merkmale einer Autobiographie festgelegt, zentral
für Lejeune ist die durch den Namen nachgewiesene Identität von Autor, Erzähler
und Protagonist: „Der autobiographische Pakt ist die Behauptung dieser Identität
im Text, die letztlich auf den Namen des Autors auf dem Umschlag verweist.“10 Der
Name erhält bei Lejeune somit zentrale Bedeutung, der autobiographische Pakt ba-
siert auf der Namensidentität: „Name des Protagonisten=Name des Autors. Allein
diese Tatsache schließt die Möglichkeit einer Fiktion aus. Selbst wenn die Erzählung
historisch gesehen völlig falsch ist, gehört sie dem Bereich der Lüge an (einer ‚auto-
biographischen‘ Kategorie), und nicht dem der Fiktion.“11
Vor allem aus dem Bereich der feminist studies kamen notwendige kritische Kor-
rektive zu Lejeunes Ansatz, der in vielfacher Weise weibliches autobiographisches
Schreiben ignoriert. Allein die Fokussierung auf die Namensidentität blendet weib-
liche Realität aus, in der Identitätsbrüche häufig mit Namensänderungen verbunden
waren/sind und die Bezugnahme auf einen Eigennamen weniger klar und einfach
vollzogen wird als in männlichen Biographien.12
Generell wird die scheinbar klare Grenzziehung zwischen Biographie und Auto-
biographie immer mehr in Frage gestellt. In letzter Zeit setzt sich in der Forschung
immer stärker der Begriff „Auto/Biographie“ durch. Was ist damit gemeint? In ers-
ter Linie geht es darum, durch die Doppelbegrifflichkeit auf die nicht immer klaren
9 Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, Frankfurt am Main 1994.
10 Lejeune, Der autobiographische Pakt, 27.
11 Lejeune, Der autobiographische Pakt, 27.
12 Eine kritische Auseinandersetzung mit Lejeunes Fokus auf den Eigennamen findet sich u.a. bei:
Elke Ramm, Warum existieren keine ‚klassischen‘ Autobiographien von Frauen, in: Michaela Hol-
denried (Hg.), Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen, Berlin 1995, 130–141, 139. Eine
Problematisierung von „Namen und Benennungen“ im Bereich weiblicher Auto/Biographik findet
sich in Bezug auf die biographierte Protagonistin auch bei Monika Bernold/Johanna Gehmacher,
Auto/Biographie und Frauenfrage. Tagebücher, Briefwechsel, Politische Schriften von Mathilde
Hanzel-Hübner (1884–1970), Wien 2003, 19–21. Für die vorliegende Arbeit erweisen sich diese
Überlegungen v.a. in Bezug auf die auto/biographische Darstellung von Margret Bilger als relevant,
deren Namen durch Heirat(en) mehrere Wechsel erfuhr, wobei Namenswechsel hier durchaus als
Identitätszäsuren verstanden werden müssen. Auch bei männlichen Protagonisten können Na-
menswechsel Identitätsetappen markieren, nicht zuletzt bei Künstlern und gewählten Künstler-
namen. Als Beispiel in der hier vorliegenden Arbeit muss Aloys Wach genannt werden, der sich
erst ab etwa 1920 so bezeichnete, nachdem er zuvor den „bürgerlichen“ Namen Alois Wachlmayr
geführt hatte.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463