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1.1 Auto/Biographieforschung | 37
Grenzen der Genres zu verweisen und anstelle der Unterschiede stärker die gemein-
samen Aspekte hervorzuheben. Je stärker die Konstruktivität von Biographien in
den Fokus wissenschaftlicher Untersuchung geriet, umso mehr Aufmerksamkeit
wurde neben dem biographierten auch dem biographierenden Subjekt sowie der
wechselseitigen Abhängigkeit und Beeinflussung geschenkt. Astrid Erll beschreibt
diese Forschungstendenz wie folgt:
„Gerade weil die kognitive Repräsentation unserer eigenen Biographie – das also, was die
Psychologie als ‚autobiographisches Gedächtnis‘ bezeichnet und als Ergebnis der Narra-
tivisierung episodischer Erinnerungen zu einer kohärenten Lebensgeschichte erklärt –
bei der Aneignung von Wissen über die Welt (und damit auch über die Lebensverläufe
anderer) stets eine Rolle spielt, ist jedes biographische Wissen schon durchdrungen von
autobiographischer Erinnerung. Hier ist wohl auch der Grund zu suchen, warum häufig
von ‚Auto/Biographie‘ die Rede ist: Über andere schreiben bedeutet immer auch, über
sich selbst zu schreiben, denn die Rekonstruktion des Lebens anderer wird (bewusst oder
unbewusst) geleitet von den eigenen Erfahrungen und Lebenserinnerungen.“13
Erll referiert hier vor allem auf das theoretische Konzept der englischen Soziolo-
gin Liz Stanley, die mit ihrem 1992 erschienenen Band „The Auto/Biographical I“
einen zentralen Beitrag zur Debatte um das auto/biographische Subjekt lieferte.14
Stanley verwehrt sich gegen die in der Biographik gängige Praxis des unsichtbaren
und gleichzeitig allwissenden Biographen, dessen eigene Position nicht sichtbar ge-
macht und nicht reflektiert wird. In ihre Kritik schließt sie die Autobiographik mit
ein, die sich genau wie die Biographie ebenfalls als Ergebnis einer Selektions- und
Konstruktionsleistung des Autors oder der Autorin präsentiert. Generell argumen-
tiert Stanley gegen eine vermeintlich klare Trennlinie zwischen Autobiographie und
Biographie, weswegen sie den Terminus der „Auto/Biographie“ einführt.
„I use the term ‚auto/biography‘, a term which refuses any easy distinction between biog-
raphy and autobiography, instead recognising their symbiosis; and it also collects into it
social science and other apparently ‚objective‘ ways of producing and using life histories
of different kinds.“15
13 Erll, Biographie und Gedächtnis, 81.
14 Liz Stanley, The Auto/Biographical I. The Theory and Practice of Feminist Auto/Biography, Man-
chester, New York 1995, 3.
15 Stanley, The Auto/Biographical I, 127.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463