Seite - 38 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Bild der Seite - 38 -
Text der Seite - 38 -
| 1 Auto/Biographieforschung –
KünstlerInnenforschung38
Ausgehend von einem Verständnis von Auto/Biographie, das die Genregrenzen öff-
nen möchte („There are many forms that writing a life can take“)16, verweist Stanley
auf die zentrale Rolle, die AutorInnen einnehmen, indem sie aus einer unendlichen
Fülle an Lebensereignissen und -erfahrungen, die bereits durch den Gedächtnispro-
zess nur mehr selektiv, das heißt fragmentiert vorhanden sind, eine weitere Selek-
tions- und schließlich Konstruktionsaufgabe übernehmen.
„[…] there is an authorial presence which stands between the subject and the reader: a
novelist, a biographer, an editor, who shapes, selects and presents. […] Also constructing
a life – piecing together various kinds and forms of remembrance of a self’s past – is itself
highly selective: selecting in what fits a framework, selecting out what appears not cen-
trally relevant.“17
Blickt man auf neuere Erscheinungsformen auto/biographischer Arbeiten, entsteht
der Eindruck, dass sich Thesen und Forderungen wie jene von Liz Stanley immer
mehr durchsetzen. Auto/Biographische Arbeiten, die die Rolle des Autors oder der
Autorin stark reflektieren, scheinen sich auch beim Lesepublikum einiger Beliebt-
heit zu erfreuen.18 Die Diskussion um Darstellungsformen von Biographie und um
den Umgang mit auto/biographischen Quellen wird gegenwärtig sehr lebendig ge-
führt, wobei sich die deutschsprachige Forschung an den regen Diskurs anschließt,
der sich im angloamerikanischen Raum schon früher abgezeichnet hat.19 Ausgehend
von dieser gegenwärtigen Forschungsperspektive soll im Folgenden die Entwick-
16 Stanley, The Auto/Biographical I, 124.
17 Stanley, The Auto/Biographical I, 125 u. 128.
18 Stanley bezeichnet solche Auto/Biographien als „Meta-Biographien“, vgl. Stanley, The Auto/Bio-
graphical I, 126. Als Beispiel erwähnt sie das bereits 1934 erschienene Werk von A. J. A. Symons,
The Quest for Corvo. An Experiment in Biography, New York 2001 [EA 1934]. Gegenwärtig sehe
ich einen starken Trend zu solchen „Meta-Biographien“, die sich dadurch auszeichnen, dass die
Figur des Biographen oder der Biographin eine zentrale Rolle in der Darstellung einnimmt. Nur
beispielhaft sei verwiesen auf den Buchbestseller von Edmund de Waal, The Hare with Amber Eyes,
London 2010 (dt: Der Hase mit den Bernsteinaugen), die erfolgreiche Filmbiographie „Finding Vi-
vian Mayer“ (USA 2014, Regie John Maloof) oder die biographischen Arbeiten von Peter Stephan
Jungk, als jüngstes Beispiel: Peter Stephan Jungk, Die Dunkelkammern der Edith Tudor-Hart. Ge-
schichten eines Lebens, Frankfurt am Main 2015 (als Dokumentarfilm unter dem Titel „Tracking
Edith“ 2017 erschienen). Auch das jüngst als „Metaroman“ gefeierte Buch von Maria Stepanova
(Nach dem Gedächtnis. Roman, Berlin 2018) kann in diese Kategorie eingereiht werden.
19 Für die vorliegende Studie erwies sich die Diskussion fruchtbar, auch ich verwende die Begrifflich-
keit von auto/biographisch, speziell in einem allgemeinen Kontext. Anders als Stanley verwende
ich aber auch weiterhin die Bezeichnungen Autobiographie/autobiographisch, und zwar dann,
wenn es sich entweder um eingeführte literarische Genrebezeichnungen wie die literarisch pub-
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463