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| 1 Auto/Biographieforschung –
KünstlerInnenforschung40
„Die Macht und Breite des eigenen Lebens, die Energie der Besinnung über dasselbe ist
die Grundlage des geschichtlichen Sehens.“22
Die Bedeutung der Selbstbiographie erschloss sich für Dilthey dabei nicht in ihrer
denkbaren Verwendung als Lebensratgeber für andere, sondern vielmehr in ihrer
Ausdrucksform als Mittel zum Verstehen generell. In seiner theoretischen Grundle-
gung der Hermeneutik als zentrale geisteswissenschaftliche Methode steht das Ver-
stehen im Zentrum. Der Unmöglichkeit, sich in fremde oder vergangene geistige
Innenwelten versetzen zu können, soll die Möglichkeit eines Verstehens der Äuße-
rungen menschlicher Lebenswelten gegenübergestellt werden. Die Selbstbeschrei-
bung ist nach Dilthey die erste und zugleich höchste Form eines solchen Verste-
hens: das Erkennen des eigenen Lebensverlaufs in seinem Verhältnis zur sozialen
Umgebung. Dilthey verwies dabei auf Zusammenhänge, die im Kontext neuerer
gedächtnisorientierter Biographieforschung höchst aktuell erscheinen, nämlich auf
den Mechanismus des menschlichen Erinnerns, Erlebnisse als bedeutsam abzuspei-
chern oder sie schlicht zu vergessen. So formulierte Dilthey:
„Er [Anm.: der Selbstbiograph] hat in der Erinnerung die Momente seines Lebens, die er
als bedeutsam erfuhr, herausgehoben und akzentuiert und die anderen in Vergessenheit
versinken lassen.“23
Die Selektionsleistung des Gedächtnisses wird dabei sowohl mit der Bedeutsamkeit
der Ereignisse in der Zeit ihres Geschehens als auch zum Zeitpunkt späterer Be-
trachtungen in Verbindung gesetzt:
„Schon im Gedächtnis vollzieht sich eine Auswahl, und das Prinzip dieser Auswahl liegt in
der Bedeutung, welche die einzelnen Erlebnisse für das Verständnis des Zusammenhangs
meines Lebensverlaufs damals, als sie vergangen waren, hatten, in der Schätzung späterer
Zeiten bewahrten, oder auch, als die Erinnerung noch frisch war, von einer neuen Auffas-
sung meines Lebenszusammenhangs aus erhielten; und jetzt, da ich zurückdenke, erhält
auch von dem, was mir noch reproduzierbar ist, nur dasjenige eine Stellung im Zusam-
menhange meines Lebens, was eine Bedeutung hat für dieses, wie ich es heute ansehe.“24
22 Wilhelm Dilthey, Das Erleben und die Selbstbiographie (1906–1911/1927), in: Günter Niggl (Hg.),
Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1998, 21–32,
30.
23 Dilthey, Erleben und die Selbstbiographie, 30.
24 Dilthey, Erleben und die Selbstbiographie.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463