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1.1 Auto/Biographieforschung | 43
dieses Ich [...] zurück?“30 Fliedls Versuch einer Antwort zielte in die Richtung, dass
gerade durch das Festhalten an der Erinnerung und damit auch an der traditionellen
Auto/Biographie „eine Art Wiederzusammenfügung entsteht, die das Verlorene der
Moderne überwinden soll“.31
Die intensive Auseinandersetzung mit Subjekt und Identität am Beginn des
20. Jahrhunderts führte tatsächlich eher zu einer verstärkten Attraktivität von auto/
biographischer Literatur denn zu deren Ende. Die „neue Biographik“32 orientierte
sich stärker an psychologischen Grundlinien, was ihr den Vorwurf einbrachte, in
der Konzentration auf das Individuum historische Prozesse zu wenig zu beachten
und damit zu „ahistorisch“ zu sein. Das Publikum hatte damit kein Problem, das
Genre der historischen Biographie war in den 1920er- und 1930er-Jahren so popu-
lär geworden, dass sich daran ein ernsthafter Konflikt innerhalb der deutschsprachi-
gen Geschichtswissenschaft entzündete. Autoren wie Emil Ludwig erreichten mit
Biographien von Kleopatra bis Bismarck Erfolgsauflagen von mehreren hunderttau-
send Stück, wurden aber von der an den Universitäten angesiedelten Geschichtswis-
senschaft als „unwissenschaftlich“ abqualifiziert.33 Emil Ludwig konterte in seinem
1936 (im Exil) erschienenen Band „Die Kunst der Biographie“, der sich weniger als
methodischer Leitfaden zur Biographieerstellung – wie der Titel vielleicht impliziert
–, sondern vielmehr als Streit- und Verteidigungsschrift liest. „So oft sich Forscher
und Künstler auf demselben Gebiete begegnen, gibt es Streit“, heißt es in Ludwigs
Einleitung, wobei die Rollenverteilung klar definiert war: Die Forscher waren die
Historiker, als Künstler sah er sich als biographisch arbeitender Schriftsteller selbst.
„Historie und Dichtung“ lauteten denn auch die dem Buch vorangestellten (ver-
meintlichen) Gegensätze und folgerichtig formulierte Ludwig:
„Das dichterische Talent gefährdet den Historiker so leicht, wie es ihn fördern kann; im-
mer bleibt es eine Frage der prozentualen Mischung, der Disziplin und Wahrhaftigkeit,
also zugleich eine moralische Frage, wie weit sich der Künstler verführen lässt, wenn er als
Historiker arbeitet.“34
30 Konstanze Fliedl, Das gerettete Ich. Impressionismus und Autobiographie, in: Klaus Amann/Karl
Wagner (Hg.), Autobiographien in der österreichischen Literatur. Von Franz Grillparzer bis Tho-
mas Bernhard, Innsbruck, Wien 1998, 75–91, 79.
31 Fliedl, Das gerettete Ich, 88 f.
32 Christian Klein/Falko Schnicke, 20. Jahrhundert, in: Klein (Hg.), Handbuch Biographie, 251–264,
253 f.
33 Vgl. dazu Angelika Schaser, Emil Ludwigs Fingerzeig auf die Biographien in der Geschichtswis-
senschaft, in: Melanie Unseld/Christian von Zimmermann (Hg.), Anekdote – Biographie – Kanon.
Zur Geschichtsschreibung in den schönen Künsten, Köln, Weimar, Wien 2013, 177–194.
34 Emil Ludwig, Die Kunst der Biographie, Paris 1936, 9.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463